Zwischenfall auf der Cumberland Avenue

Zwischenfall auf der Cumberland-Avenue ist im Jahre 1965 geschrieben worden, wenige Wochen nach den darin festgehaltenen Ereignissen. Einige Abschnitte, die das Ergebnis des Prozesses aufzeichnen, habe ich 1966, kurz vor der Veröffentlichung der Story, hinzugefügt. Eine weitere Ergänzung hat sich meiner Meinung nach erübrigt.

Eine seltsame Geschichte, der viele Leser eine tiefgreifende und beunruhigende Bedeutung abgewonnen haben. Möglicherweise erklärt dies, warum ich mit keinem meiner bisherigen Artikel soviel Sonderbares erlebt habe, wie gerade mit Cumberland-Avenue. Vielleicht – nur vielleicht – sagt die Geschichte mehr aus, als ich mir beim Schreiben bewusst werden sollte.

Der Redaktor, der die Story ursprünglich in Auftrag gegeben hatte – und die Interviews bezahlte –, beschloss, den Artikel nicht zu veröffentlichen. „Irgendwie fehlt dem Ganzen die Pointe“ meinte er. Ich war schockiert, weil ich Cumberland-Avenue für die beste journalistische Arbeit hielt, die ich je geschrieben hatte – die verschiedenen Reaktionen sollten mir jedoch noch manchen Schock versetzen!

Der zweite Redaktor, dem ich den Artikel anbot, kaufte ihn sofort und machte daraus eine Titelstory. Kurz danach übernahm ihn eines dieser flotten Nachrichtenmagazine – von der Sorte, wie sie in Supermäkten angeboten werden – zu einem Preis, der alles übertraf, was ich bisher für einen meiner Artikel erhalten hatte. Einige lang ist sogar von einer möglichen Verfilmung die Rede gewesen.

Der Alltag nahm seinen Verlauf, ich schrieb viele andere Geschichten und vergaß Cumberland-Avenue. Einmal hörte ich, dass sie in einem Jesuiten College als Schulungsmodell für objektiven Journalismus Verwendung gefunden hätte.

Als der Artikel später in einer Anthologie erschien, erklärte ein Rezensent, dass er die Story nicht glauben würde. Sie trüge all die Merkmale einer als Wahrheit verkauften Fiktion. Nun, die Geschichte hat sich tatsächlich ereignet. Gerade kürzlich habe ich von jemandem gehört, der vor sechzehn Jahren in die blutigen Auseinandersetzungen auf der Cumberland-Avenue verwickelt gewesen war. Er ist heute Redaktor einer Literatur-Zeitschrift in New York, und er erklärt sich nach wie vor außerstande, zu begreifen, wie dies alles hatte geschehen können. Auch ich habe keine Erklärung dafür.

Und nun will der Herausgeber des Sphinx-Magazins den Artikel abdrucken – aber er erklärte mir, dass er dazu eine Einleitung benötigt. Ich weiß eigentlich nichts, was ich zu dem Thema sagen könnte, das nicht bereits in dem Artikel enthalten wäre. Entweder beunruhigt einen die Story, und man begreift warum – oder sie beunruhigt einen ohne dass man weiß wieso. Die Geschichte passierte in jenem Teil von Tennessee, der vor hundertfünfzig Jahren der Wilde Westen gewesen war; dort, wo Supermänner der US-Folklore wie Daniel Boorne und Präsident Andy Jackson gegen lndianer, Bären und Klapperschlangen gekämpft hatten – wo die Mehrzahl der Einwohner noch heute Schießeisen mit sich herumträgt. Aber ich glaube, dass dieser Zwischenfall – leicht abgeändert – überall hätte stattfinden können. Die Story ist nicht spezifisch amerikanischer als Antigone oder das vierte Kapitel der Genesis.

Solche Dinge scheinen überall vorzukommen, ehe nicht alle Menschen die Worte des Johannes-Evangeliums 10, 34 begriffen haben:
Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz:
„Ich habe gesagt: Ihr seid Götter?“

— Robert Anton Wilson


Blut für Blut
— T.S. Eliot, Mord im Dam

Am Morgen des 1. Februar 1965 sank in Knoxville, Tennessee, die Temperatur auf -10° C, und leichter Graupelregen und Wind begannen durch die Stadt zu fegen. Südstaatler hassen diese Art Wetter mehr als die Bewohner nördlicher Staaten, weil sie weniger daran gewöhnt sind. Sie murren mehr als die Nordstaatler, sie fluchen mehr, und ihre Stimmung sinkt schneller. Als gegen Mittag aus dem Graupelregen Schnee wurde und der Wetterdienst eine Niederschlagshöhe von 15½ mm anzeigte, schlossen die Bezirksschulen für diesen Tag. Die Stadtschulen folgtem diesem Beispiel und schickten ihre Schüler um 13:30 Uhr nach Hause. Als steckengebliebene Autos die Straßen zu verstopfen anfingen, begann sich jedermann mit dem miserablen Tag abzufinden.

Aufzeichnungen zeigen, dass die Polizei von Knoxville im Verlauf des Nachmittags und des Abends 117 telefonische Hilferufe erhalten hatte: 50 dieser Anrufe betrafen Verkehrsprobleme unterschiedlichen Grades; bei einem handelte es sich um die Kollision von sieben Wagen am Kensington Pike. Siebenundsechzig Anrufe waren Klagen von Motorfahrzeugfahrern, die auf der Cumberland Avenue von Studenten der Tennessee-Universität mit Schneebällen beworfen worden waren. Die Cumberland Avenue ist eine vierspurige Durchfahrt, die mitten durch das Universitätsgelände führt und in den US-Highway 11 mündet.

Die Cumberland Avenue beschreibt nahe der Universität eine schwierige Steigung, und man sandte eigens einen Polizisten aus, der sich mit den dortigen Verkehrsproblemen zu befassen hatte. Die Stadtpolizei unternahm nichts in Bezug auf die schneeballwerfenden Studenten, da man annahm, dass dies – wie in früheren Fällen – von der eigenen Polizei der Universität erledigt werden würde.

Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass letztere der Schneeballschlacht um 15:45 Uhr ein Ende gesetzt hatte. Etwa um 16:00 Uhr war das Spiel jedoch wieder aufgenommen worden. Die Uni-Polizei war nicht mehr aufgetaucht, da sie zu sehr damit beschäftigt war, Fakultätsmitglieder in ihren Autos – manche davon auf Südstaatenart ohne Schneeketten – über die Hügel zu manövrieren. Der Polizist aus Knoxville befand sich zu dieser Zeit auf der anderen Seite des Hügels, wo keine Schneeballschlacht stattfand.

French Harris war seit fünf Jahren Polizeichef von Knoxville – vorher war er neunzehn Jahre lang als Detektiv tätig gewesen. Viele Leute wollten ihn nun für das, was an jenem Tag auf der Cumberland Avenue geschah, verantwortlich machen. Aber er war zu lange Polizist gewesen, um Kritik gegenüber allzu empfindlich zu sein. Er war ein stämmiger Fünfziger, hatte seine berufliche Laufbahn als Beamter der motorisierten Polizei begonnen, besuchte die FBI National Academy und arbeitete drei Jahre lang mit dem US Narcotics Bureau. Er ist in Knoxville und an der Universität beliebt. Die Studenten wissen, dass er auf die Bezahlung einer Buße nicht bestand, falls der Fahrer des falsch parkierten Autos eine überzeugende Geschichte vorzubringen wusste. Einzig die Bemühungen um die Durchsetzung eines Gesetzes gegen den Alkoholausschank an Minderjährige liegt ihnen auf dem Magen – sonst nichts.

Harris stand zweimal wegen Mordes unter Anklage. In beiden Fallen hatte er eine flüchtende Verdachtsperson erschossen – und jedesmal wurde er freigesprochen. Man weiß nun um sein Mitleid und sein Bemühen, innerhalb der gesetzlichen Grenzen fair zu sein. „Ich saß zweimal als Angeklagter vor Gericht“, sagte er, „ich weiß, wie man sich in solchen Fallen fühlt“. Bevor er seine Arbeit im Narcotic Bureau begann, hatte er einmal Morphium versucht. „lch wollte wissen, was ein Süchtiger sucht“, erklärte er, „es genügt nicht, jemanden festzunehmen. Ich möchte diesen Menschen verstehen. Vielleicht kann ich ihm dann helfen. Und vielleicht muss ich ihn dann gar nicht mehr festnehmen.“ French Harris besuchte vor zwei Jahren ein Seminar über Zivilrecht an der Universität von New York, um herauszufinden was es damit auf sich hat. Er ist ein Mensch, der verstehen will und gerecht sein möchte. Um 15:00 Uhr fuhr an jenem Nachmittag ein Mann namens Roland Lawson durch das Schneetreiben, mitten durch die Schneeballschlacht auf der Cumberland Avenue. Lawson, achtundfünzig Jahre alt, war Schweißer bei der Fulton Sylphon Company in Knoxville; er hatte seinen Arbeitsort frühzeitig verlassen, um Schneeketten montieren zu lassen.

Roland Lawson litt an hohem Blutdruck und war von seinem Arzt gewarnt worden, dass übertriebene Aufregung oder Anstrengung einen Herzanfall auslösen könnten. Die Studenten bombardierten sein Auto auf der Cumberland Avenue so heftig mit Schneebällen, wie sie es bei allen anderen Autos auch getan hatten.

Lawson fuhr nach der Schneeballschlacht noch einen halben Häuserblock weiter und brach dann hinter dem Steuerrad zusammen. Das Auto fuhr in eine Telefonstange und kam zum Stillstand. Fußgänger alarmierten eine Ambulanz; einige Minuten vor 16.00 Uhr stellte man im Universitätsspital fest, dass Roland Lawson an einem Herzanfall gestorben war.

Im Spital wusste niemand von dem Schneeball-Überfall, und French Harris hat von diesem Vorfall noch mehrere Stunden lang nichts gehört. Es ist ihm auch nicht zu Ohren gekommen, dass die Frau des Verstorbenen auf ihrem Weg ins Spital durch die Cumberland Avenue fahren musste, wo sie von den Studenten ebenfalls mit Schneebällen bombardiert worden war – ein Vorfall, der sie äußerst verärgert und erschreckt hatte.

French Harris vernahm zu spät, dass Mrs. Lawson – der man im Spital den Ort des Unfallgeschehen erklärt hatte – sofort jene Theorie in die Welt setzte, die am anderen Tag von der Presse ins ganze Land hinausgetragen werden sollte: Roland Lawsons Herzanfall war durch die Schneeballschlacht der Studenten ausgelöst worden. Harris hatte um 16.30 Uhr, als Mrs. Lawson ihrer Theorie Ausdruck verlieh, noch nichts davon gehört. Hätte er zu diesem Zeitpunkt davon vernommen, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, schneller zu handeln. In diesem Fall wäre Knoxville nicht plötzlich zwei weiteren Leichen gegenübergestanden, deren Todesursache es zu klären galt.

Wer ist der Mörder,
wer das Opfer?
Sprich …

— Sophocles, Oedipus Rex

Neun Uhr vormittags: In der New Melrose Hall, einem der modernsten Gebäude der Universität von Tennessee, weckte Frank Wassermann seinen Zimmerkameraden Marland Goodman. Beide Jungen waren achtzehn Jahre alt, Nordstaatler – Wassermann stammte aus Massapequa, Long Island, und Goodman aus Swamscott, einem eleganten Vorort von Boston – und seit der sogenannten Schnepfenjagd eng befreundet. Diese Schnepfenjagd ist eine alte Tradition der Universität. Die meisten Studenten stammen aus Tennessee, ungefähr zehn Prozent kommen jedoch aus anderen Staaten und fünfundachtzig verschiedenen Ländern der Welt. Jedesmal wenn die Neuimmatrikulationen stattgefunden haben, hören die Fremden von der Schnepfenjagd.

Die Schnepfe ist der schmackhafteste aller Vögel – so erzählt man ihnen – sogar besser als der Fasan, und die Wälder außerhalb Knoxville sind voll davon. Wenn die Nacht hereinbricht, in der die Schnepfenjagd stattfinden soll, so brennen die meisten Fremden darauf, mitzumachen. Die Einheimischen führen sie in die Wälder, wo sie sie einfach verlieren.

Es gibt dort keine Schnepfen. Marty Goodman und Frank Wassermann gehörten zu jener Gruppe von Nordstaatlern, die im September 1964 auf Schnepfenjagd gingen. Verlassen im Dunkel der unbekannten Wälder, tausend Meilen von zu Hause entfernt, um drei Uhr morgens, hat sie ihr Status als fremde Nordstaatler zusammengeführt.

Sie haben dabei etwas über Mut, Humor, Einsamkeit und über ihre eigene Persönlichkeit gelernt. Wir sehen in der Schnepfenjagd, in der Zwiebackbüchse, nach der gelegentlich Rekruten der Air-Force suchen müssen oder in jenem gestreifte Farbe enthaltenden Kanister, den man die Malerlehrlinge zu holen beauftragt, nichts als Schelmenstreiche: die Anthropologen bezeichnen diese Riten als Initiations-Prüfungen und sagen, dass sie eine Katharsis der Scham und der Angst bewirken, die als Merkmal für den Übergang von einer Lebensstufe zur anderen notwendig sei. Für Wassermann und Goodman hatte die Schnepfenjagd ungefähr diese Bedeutung. Von den beiden Jungen war Marty Goodman auf dem Campus etwas bekannter. Er besaß eine große Sammlung von Folk-Platten und Folk-Notenblättern, und er war ein begeisterter Gitarrist. Man hörte ihn eher über Folk-Musik als über irgendein Collegethema sprechen.

An jenem Morgen redete er aber nicht über Folk-Musik, sondern über seine Freundin Judy Goldberg, die in Boston zurückgeblieben war; er klagt wie sehr er sie vermisse. Frank Wassermann erinnerte sich nachher an dieses Gespräch. Marty Goodman hatte auch von seiner Englischprüfung gesprochen. Frank Wassermann erinnerte sich später auch daran. Um 14.15 Uhr an jenem Nachmittag befand sich Julian Harris in seinem Bureau in der Universität. Harris, ein hoch aufgeschossener fünfzigjähriger Lincolntyp, ist Public Relations-Direktor der Universität – einer jener Jobs, die einen nächtelang wachhalten. Wie jede andere Universitätsstadt ist Knoxville auf die Studenten gesotten und betrachtet sie als eine Art übergebildete jugendliche Delinquenten.

Knoxville liegt aber auch im Süden: Wenn man auf dem Highway 11 in die Stadt einfährt, gelangt man zu einem Plakat, das besagt: RETTET DIE REPUBLIK – ZIEHT EARL WARREN ZUR VERANTWORTUNG! Die John Birch Society trifft sich mitten in der Stadt im Ferragut Hotel, und gelegentlich ist ein Auto zu sehen, das immer noch – ein bitterer Rückschlag – das Zeichen AuH₂ 0-64 mit sich herum führt. In einer solchen Umgebung muss jede Universität mit Argwohn betrachtet werden. Als Harris sah, dass der Graupelregen zu Schnee wurde, dachte er sofort an die freiwilligen Helfer unter den Studenten, die bei Schneesturm stets den steckengebliebenen Autofahrern auf der Cumberland Avenue zu helfen pflegten. Er hoffte, dass die Studenten auch heute wieder helfend eingreifen würden – das konnte dem Image der Universität nur gut tun.

Um 14:30 Uhr war das Wetter so schlecht, dass der Dekan Charles Lewis seine Sekretärin nach Hause schickte. Lewis, ein hellblonder, sechsundvierzigjähriger, stets schmucke Krawatten tragender Mann, blieb in seinem Bureau innerhalb des Verwaltungsgebäudes, weil auf 16:00 Uhr eine Konferenz mit vier Studentenführern angesagt war. Man wollte die Einwände der Studentenschaft in Bezug auf die neuen Dienstleistungsgebühren der Universität besprechen. Er beabsichtigte, ihnen einen großen Freiraum beim Vorbringen ihrer Empörung zu gewähren, ihnen verständnisvoll so lange zuzuhören, wie sie reden wollten und die Gebühren um keinen Cent zu kürzen. Es würde eine anstrengende Sitzung werden.

Als er aus dem Fenster blickte, bemerkte er einige Studenten, die in eine harmlose Schneeballschlacht verwickelt waren. Lächelnd erinnerte er sich an den leichten Schneefall von vergangener Woche und wie er der Versuchung, am Morgen über den Hof zu laufen, nicht hatte widerstehen können. Auch im Alter von sechsundvierzig Jahren ist es ein herrliches Gefühl, eine Handvoll Schnee zu ergreifen, daraus eine feste harte Kugel zu formen und diese an den nächsten Baum zu knallen. Dennoch war Lewis froh, dass keiner der Studenten seinen Ausbruch gesehen hatte.

Die von Lewis beobachteten Studenten waren nicht die einzigen auf dem Universitätsgelände, die der heimtückischen Versuchung des Schnees zu unterliegen begannen. Unten auf dem westlichen Teil der Cumberland Avenue hatten sich links und rechts der Straße zwei gegnerische Teams gebildet, die sich über die Dächer der vorbeifahrenden Autos hinweg gegenseitig mit Schneebällen bombardierten.

Einige waghalsige Typen begannen auch die Autos zu bewerfen. Es handelt sich dabei um einen Lieblingssport Jugendlicher, und die meisten von uns hatten ein- oder zweimal pro Winter ebenfalls Autos bombardiert.

Bald waren über zweihundert Studenten an diesem Spaß beteiligt; keiner bemerkte, was ihre Schneeballschlacht bei Roland Lawson für Folgen hatte.

Am oberen Teil der Cumberland Avenue, auf der anderen Seite des Hügels, waren Studenten damit beschäftigt, festgefahrenen Autos Starthilfe zu leisten. Julian Harris, der PR-Mann der Universität, hatte sie bemerkt, als er seine Sekretärin nach Hause brachte, und war erleichtert – ein solches Verhalten trägt zum Image der Hochschule bei. Er wusste nichts von jenem anderen Image das sich auf der anderen Seite des Hügels zu formen begann.

Die Polizei von Knoxville hatte jedoch bereits etwas von diesem Image vernommen. J. M. Lobetti, Vorsitzender der White Star Bus-Gesellschaft, rief die Polizei an, um mitzuteilen, dass Studenten auf dem westlichen Teil der Cumberland Avenue urn 15:00 Uhr bei einem festgefahrenen Bus zwölf Scheiben eingeschlagen hatten, mit Gewalt die Türe aufgerissen und dem Fahrer Robert Holder Schneebälle ins Gesicht geworfen hatten.

Ein anonymer Taxifahrer klagte, dass er gesehen habe, wie eine Frau aus ihrem Wagen gezerrt und an den Füßen durch den Schnee gezogen worden sei. „Ihre Hosen müssen voller Schnee gewesen sein“, sagte er, „es war schrecklich.“

John Rinehard beklagte sich, dass man ihm ein Fenster seines Autos zerbrochen hatte, dass der ganze Vordersitz des Wagens voller Schnee sei und dass ihn die Studenten misshandelt hatten, als er sich zur Wehr setzte.

In einem anderen Teil der Stadt bewarfen Studenten einen farbigen Autofahrer mit Schneebällen, so dass er von der Straße abkam und in einen Graben fuhr. Dieser Fall war jedoch rasch erledigt: Leichtathletik-Coach Frank Rowe war zur Stelle und zwang die Studenten, sich bei dem Fahrer zu entschuldigen und fünfzig Dollar an die Reparaturkosten zu bezahlen.

Als der erbärmliche, kalte Schnee weiterhin vom Himmel fiel, wuchs der studentische Mob an der Cumberland Avenue auf vierhundert Personen an. Die Luft widerhallte vom Rasseln der Schneeketten, von jaulenden Motoren, fluchenden Autofahrern und dem ausgelassenen Geschrei und Gelächter der Studenten.

Der Streifenpolizist Davis Gaddis musste auf der anderen Seite des Hügels – nur einige hundert Meter entfernt – ununterbrochen Klagen von Automobilisten entgegennehmen, die durch die Schneeattacke hindurchgefahren waren. Er sagte ihnen, dass er seinen Posten nicht verlassen dürfe, und wies sie an, sich telefonisch an das Polizeihauptquartier zu wenden.

Ein- oder zweimal bewarfen Studenten, die sich so weit östlich verlaufen hatten, auch den Streifenpolizisten Davis Gaddis – möglicherweise eine zutiefst symbolische Tat.

Keiner der Studenten hatte sich natürlich bei dieser ganzen Angelegenheit etwas gedacht, sie hatten einfach ihren Spaß gehabt. Nach und nach wandelte sich dieser Spaß jedoch zu einem Ritual, das den Charakter einer Beleidigung gegenüber jeder Erwachsenen-Autorität annahm. Es war unvermeidlich, dass ein Polizist ebenfalls einiges abbekommen würde. Ein Polizist repräsentiert die monolithischste Form der Autorität: den Staat.

Die Brüder, welche sich zur Tötung des Vaters zusammengetan hatten, waren ja jeder für sich vom Wunsch beseelt gewesen, dem Vater gleich zu werden, und hatten diesem Wunsch durch Einverleibung von Teilen seines Ersatzes in der Totemmahlzeit Ausdruck gegeben … 
— Sigmund Freud, Totem und Tabu

Frank Wassermann, der Neuling aus Massapequa, war in seinem Zimmer beschäftigt, als Marty Goodman um 16:00 Uhr hereinstürmte und mitteilte, dass verschiedene Schneeballschlachten im Gange seien, an denen er teilnehmen wolle.

Marty war gerade recht enttäuscht worden; nachdem er mühsam zu Fuß eine Meile zum Kollegiumgebäude gelaufen war, musste er feststellen, dass die Vorlesung seiner Englischklasse für diesen Tag abgesagt worden war. Seine Lehrerin, Nancy Fisher, die in Oakland, Tennessee, wohnte, war im Schnee steckengeblieben und nach Hause zurückgekehrt. Marty musste bis Mittwoch warten, um erfahren zu können, ob er bei der letzten Prüfung gut abgeschnitten hatte.

Frank lieh Marty ein Halstuch, lehnte es jedoch ab, mit ihm an den Schneekarneval zu gehen. „Ich muss noch etwas arbeiten“, sagte er, „ich werde später ausgehen.“

Frank konnte sich später nie daran erinnern, was er an jenem Nachmittag gearbeitet hatte. Kurz nach 18:00 Uhr beendete er sein Tagwerk und ging aus, um etwas Betrieb zu haben. Er fand ihn alsbald, nämlich direkt vor der Tür zur Melrose Hall, wo ihn eine siebenköpfige Bande mit einer Lawine von Schneebällen überfiel. Da es ihm unmöglich war, sich gegen diese Übermacht von Angreifern zu wehren, rannte Frank davon, um Freunde zu holen. Nachdem er um die Ecke des Gebäudes verschwunden war, begann er normal weiterzugehen. Plötzlich kam ein ihm unbekannter Student auf ihn zugerannt und sagte: „Geh besser zur Melrose Hall zurück. Sie werden dich suchen – dein Zimmerkamerad ist tot!“

„Ich lachte“, sagte Frank Wassermann später, „ich war sicher, dass er einen Witz machte. Die wollten mich zur Melrose Hall zurücklocken, um mich nochmals zusammenzuballern. Ich war überzeugt davon. Ich antwortete: Komm schon, du willst mich wohl auf den Arm nehmen …“

Der andere Student war bleich und vollig ernsthaft. „Es stimmt“, sagte er missmutig, „Marty ist tot – er ist soeben auf der Cumberland Avenue erschossen worden.“

Da überkam Frank Wassermann schlagartig ein Schauer der Gewissheit, und er hörte sich fragen: „Sicher, sicher?“ Das Gesicht des anderen hatte ihm jedoch die Gewissheit schon gegeben.

Are you washed in the blood of the Lamb?
Are you marked with the mark of the beast?
Come down Daniel to the Lion’s den
Come down Daniel and join in the feast …
— T.S . Eliot, Murder in the Cumberland

Als Marty Goodman kurz nach 16:00 Uhr auf der Cumberland Avenue angekommen war, glich diese einem Verschnitt zwischen Karneval und Alptraum. Alles war mit Autobussen, Autos und Lastwagen verstopft, und zwischen vier- und fünfhundert Studenten bewarfen die ganze Szenerie mit Schneebällen. Dazu blies und heulte der Wind, während ununterbrochen Schnee fiel.

In einem der festgefahrenen Lastwagen saß William Douglas Willett, Jr. aus Greenville, Tennessee, und kochte vor Wut. Er war verloren. Mit der Absicht, bei diesem Schneetreiben Zeit zu gewinnen, hatte Willett eine nahe Route durch Knoxville ausprobiert – und nun befand er sich in einer ihm unbekannten Straße, und gegen seine Windschutzscheibe knallten pausenlos Schneebälle. Er fürchtete, dass die Scheibe jeden Moment zerbersten konnte, und dann plötzlich – wurde die Tür zu seinem Vordersitz aufgerissen und ein Dutzend grinsender Gesichter schauten herein.

Er öffnete seinen Mund – zornig und verängstigt – um die Leute davor zu warnen, zu weit zu gehen. Aber ehe er etwas sagen konnte, fiel pfundweise Schnee über ihn: er wurde mehrere Male im Gesicht getroffen. Da griff er in das Handschuhfach und nahm die von seiner Firma ihm zur Verfügung gestellte Pistole heraus.

Die Studenten sahen die Pistole, und Willett stieß eine Drohung aus – niemand erinnerte sich an den genauen Wortlaut –, als ihn jemand (Willett sagte später, dass es seiner Meinung nach Marty Goodman gewesen sei) Schnee ins Gesicht warf. Er stieg aufs Trittbrett hinaus, als ihm nochmals Schnee ins Gesicht geworfen wurde – da schoss er zweimal. Einen Moment lang regte sich niemand mehr.

Der Widerhall des Schusses blieb in der Luft hangen, das Geschrei und Gelächter hörte auf und jeder Student hielt seinen Atem an, um festzustellen, ob irgendwer verletzt sei. Und dann fiel Marty Goodman wie ein Baum um – er lag reglos im Schnee, wo sich ein großer roter Fleck um ihn herum bildete . Der eine Schuss war vollkommen ins Leere gegangen, der andere aber hatte Marty Goodman ins rechte Auge getroffen, hatte sein Gehirn durchschlagen und war unter dem linken Ohr wieder ausgetreten.

Mit einem Aufschrei stürzten sich die Studenten auf Willett. Laut Zeugenaussagen warfen sich zwanzig Studenten gleichzeitig auf den Lastwagenfahrer, zerrten ihn zu Boden, traten ihn mit Füßen, schlugen schreiend auf ihn ein. Eine Studentin rief: „Bringt ihn nicht um – er wusste nicht was er tat!“

Schließlich gab man Willett frei und ließ ihn in seinen Führerstand zurückkehren. Um 17:39 Uhr wurde die Polizei benachrichtigt – eine Stunde und neun Minuten nach Mrs. Lawsons Behauptung dem Spitalpersonal gegenüber, wonach ihr Ehemann von den Studenten umgebracht worden sei.

Marty Goodman wurde in eine wenige hundert Meter entfernte Drugstore getragen. Er atmete. Ein Student namens Ken Elrod, achtzehn Jahre alt und aus Nashville, machte Mund-zu-Mund-Beatmung mit ihm. Als der Krankenwagen vorfuhr und man Marty Goodman zum zweiten Mal aufhob, setzte sein Puls aus. Ken Elrod fuhr mit ins Spital, aber er war keineswegs erstaunt, als der Arzt in der Notfallstation Marland Joseph Goodman um 18:04 Uhr für tot erklärte.

Nach dem im menschlichen Fühlen tief verwurzelten Gesetz der Talion kann ein Mord nur durch die Opferung eines anderen Lebens gesühnt werden; die Selbstaufopferung weist auf eine Blutschuld zurück. Und wenn dies Opfer des eigenen Lebens die Versöhnung mit Gottvater herbeiführt, so kann das zu sühnende Verbrechen kein anderes als der Mord am Vater gewesen sein …
— Sigmund Freud, Totem und Tabu

Die Schneeballschlacht wurde mit noch großerer Raserei fortgesetzt. Die ersten zwei Polizisten die am Tatort erschienen, die Detektive Robert Chadwell und Gene Huskey, wurden mit Schnee beworfen, während sie Goodman in die Ambulanz tragen halfen. Chadwell beschwerte sich beim ersten Reporter, den er zu Gesicht bekam: „Sie zeigen keinerlei Respekt einem Polizeioffizier gegenüber“ sagte er, „auch sonst gegenüber niemandem. Sie benehmen sich nicht wie Studenten, sondern wie ein Haufen Idioten! Ein Schneeball schlug mir gegen den Hinterkopf – es schmerzte eine halbe Stunde oder noch länger …“

William Douglas Willett wurde auf das Polizeihauptquartier gebracht und von Inspektor Fred Scruggs verhört. Willett „weinte wie ein Baby“ erzählte Scruggs später. Er versicherte immer wieder: „Ich wollte es nicht tun, ich wollte es nicht tun.“

Scruggs erfuhr, dass Willett Angestellter der Bird and Cutshaw Produce Company in Greenville, Tennessee, war, und dass er eine Ladung frisch präpariertes Geflügel nach Cincinnati, Ohio, bringen wollte. Untersuchungen zeigten, dass Willett an der linken Schläfe, an der Nase und am Mund durch Schneebälle verursachte Verletzungen aufwies und dass sein linkes Auge geschwollen war. Aus diesem Grund ließ Dekan Lewis jemanden suchen, der die Leiche eindeutig als Marland Joseph Goodman identifizieren konnte.

Die Telefonapparate im Studentenzentrum läuteten ununterbrochen, und niemand wusste mit Sicherheit, ob Willetts zweiter Schuss nicht doch noch einen anderen Studenten getroffen hatte. Es herrschte ein einziges Chaos. Julian Harris, der PR-Mann der Universität, konnte des stürmischen Wetters wegen nicht auf das Universitätsgelände zurückkehren, aber Dekan Lewis leitete alle Anrufe von Reportern an Harris Privatnummer.

Eine nähere Untersuchung der Immatrikulationsunterlagen zeigte, dass Marland Goodmans Onkel, Professor Fred Blumoerg, an der Fakultät für Englische Sprache arbeitete. Dekan Lewis nahm mit Professor Blumberg Kontakt auf und erklärte ihm, dass es sich bei dem Erschossenen möglicherweise um seinen Neffen handle. Professor Blumberg willigte ein, sich mit dem Dekan ins Spital zu begeben, um die Identifikation der Leiche vorzunehmen.

Die Fahrt durch den immer wilder rasenden Schneesturm verlief quälend langsam, und beide Männer waren seelisch zu sehr angespannt, als dass sie ein Gespräch hatten führen können. Im Spital ging dann die Identiftkation sehr rasch vonstatten.

„Ja, das ist Marty“, sagte Professor Blumberg, als man ihm die Leiche zeigte. „Ich erinnere mich jeden Tag an diesen Augenblick“, sagte Dekan Lewis einen Monat später, „und ich glaube, ich werde mich mein Leben lang daran erinnern“. Das Gesicht des toten Jungen wurde wieder mit einem Tuch bedeckt, und die beiden Männer verließen schweigend das Spital. Sie kehrten zu ihrem Auto zurück, um im ununterbrochenen Schneefall langsam zurückzufahren.

Als sie um 20:30 Uhr auf dem Universitätsgelände angelangt waren, hatte die Schneeballschlacht endlich aufgehört – der Unglücksfall war aber noch lange nicht an seinem Endpunkt angelangt: Auf dem Universitätsgelände nahm die Schneeballschlacht ihren Fortgang. John F. Roth, Lastwagenfahrer einer Schweißerfirma, rief die Polizei an, um sich darüber zu beschweren, dass Studenten auf der Cumberland Avenue sein Auto mit Schneebällen bewarfen, plötzlich dessen Türe aufgerissen und den Vordersitz samt mir mit Schnee überschüttet hatten.

Dekan Charles Lewis hatte seine Sitzung mit den Studentenführern soeben beendet und wollte nach Hause gehen, als er zum ersten Mal von Goodmans Tod hörte. Er begab sich sofort ins Studentenzentrum wo es mehr Telefonapparate gab als in anderen Gebäuden, und versuchte die Sache in den Griff zu bekommen. Das erste Anliegen des Dekans war die sichere Identifizierung des Erschossenen. Fünf Jahre vorher, als er Dekan an der Universität von North Dakota gewesen war, hatte im Zusammenhang mit einem Autounfall eine falsche Identifikation stattgefunden, so dass man den falschen Eltern den Tod ihres Sohnes mitgeteilt hatte. Später hatte sich herausgestellt, dass der tote Student aus unerklärlichen Gründen – sehr wahrscheinlich ein sogenannter
Studentenstreich – seine Brieftasche mit derjenigen eines anderen ausgetauscht hatte.

Frank Wassermann kehrte diese Nacht spät auf sein Zimmer zurück, das er mit Marty geteilt hatte. Er schaute Martys Gitarre an, Martys Bücher, seine Notenblätter und Schallplatten; er zog sich aus und legte sich ins Bett, doch bald wusste er, dass er in diesem Zimmer nicht schlafen konnte. Man liest von Hunderten und Tausenden von Toten im Kongo, in Vietnam oder in West-Berlin, und man fühlt nichts dabei. Ein Junge teilt einige Monate mit dir das Zimmer; plötzlich ist er nicht mehr – und du bist so betroffen, dass du es nicht in Worten fassen kannst. Frank Wassermann zog sich wieder an und verließ rasch den Raum. Er verbrachte die Nacht im Zimmer eines anderen Neulings, Jack Topchick aus Passaic, New Jersey.

Ungefähr um die selbe Zeit meldete sich ein Mann namens Walter Lee Yow bei der Heilsarmeeschlafstätte in Knoxville. Sein Kopf schmerzte ihn, und er klagte, dass er auf der Cumberland Avenue – auch er, ein Lastwagenfahrer – hinter dem Ohr, von einem besonders harten, von Eis durchsetzten Schneeball getroffen worden sei. Polizei und Universität haben von Mr. Yow erst am nächsten Morgen gehört. Am 2. Februar begann für Dekan Lewis und Julian Harris die wahre Hölle. Lokalreporter, die von Lawsons Herzanfall gehört hatten, zeigten in ihren Fragen an die Universitätsvertreter eine zusehends feindseligere Haltung. „Sobald ich von Lawson gehört hatte, war es mir, als ob ein Geschwür zu wachsen beginne“, sagte Harris später, „und jeder Reporter machte es um einige Millimeter größer.“ Das Geschwür wäre noch schneller gewachsen, hätte Harris gewusst, dass Walter Lee Yow diesen Morgen in der Heilsarmeeunterkunft mit noch heftigeren Kopfschmerzen aufgewacht war und danach die Polizei angerufen hatte, weil er freiwillig zugunsten von Willett aussagen wollte. „Er hat aus Selbstverteidigung geschossen“, sagte Yow aus. „Diese Studenten hatten vollständig die Kontrolle über sich verloren.“ Er war einverstanden, aufs Polizeihauptquartier zu kommen, wollte aber vorerst einen Arzt aufsuchen. Yow ging zu Dr. Henry Christenberry. Dieser hochbegabte dreiundfünfzigjahrige Arzt ist in Knoxville beheimatet, hatte aber sein Studium an der NYU-Bellevue-Medical School absolviert.

Während er die Wunde hinter Yows Ohr untersuchte, wurde ihm klar, dass es sich dabei um eine ernsthafte Verletzung handeln könnte . Plötzlich stand Yow auf, klagte über Schmerzen und sank dann – ganz Iangsam – zu Boden, wo er im Koma blieb. „Ken, komm her!“ schrie Dr. Christenberry. Sein Bruder, Dr .Kenneth Christenberry kam aus dem Nebenzimmer herbeigeeilt. Die beiden Ärzte bearbeiteten Yow eine halbe Stunde lang, gaben ihm Sauerstoff und Adrenalin und versuchten es verzweifelt mit Herzmassage. Erfolglos. Um 16:30 Uhr erklärten sie ihn für tot auf Grund mannigfaltiger Erschütterungen und Gehirnverletzungen. Die Universität von Tennessee hatte nun für drei Leichen eine Erklärung abzugeben. Und nun, da sich die Raserei der Studenten gelegt hatte, begann jene der Ortsbevölkerung einzusetzen.

Passion, I see, is catching …
Shakespeare, Julius Caesar

Die Knoxville News-Sentinel meinte an diesem Abend: Erschreckende Demonstrationen temporär Besessener, wie sie gestern zu erleben waren , dürfen nie mehr vorkommen. Die Einwohner von Knoxville wurden so gar noch deutlicher – ihre Zuschriften überfluteten die Zeitung.

Sam T. Hodges, 712 Boggs Avenue, schrieb: Der einzig überraschende Punkt bei der Erschießung eines Studenten im Verlauf der gewohnten Schneeballschlacht gebildeter Strolche auf West Cumberland ist die Tatsache, dass es so lange dauerte, bis es geschah. Das Verhalten dieses Haufens ist ein Beweis für den großen Unterschied zwischen Bildung und Intelligenz … Der Verhaltensweise vieler dieser Studenten mangelt es nicht viel zur barbarischen Idiotie. Sie lassen jegliches Mitgefühl gegenüber Menschen vermissen, die ohnehin in großen Schwierigkeiten sind.

Manning B. Kirby, Jr., 8021 Hayden Drive, schrieb: Ich habe keine Hoffnung, dass jene Studenten, die an der Schneeballschlacht beteiligt waren, auch nur im Geringsten davon berührt sein werden. Ich weiß, sie sind unbarmherzig, absolut eigensüchtig und bösartig … Ich habe von all jenen Eltern die Nase voll, die ihnen einen derartigen Egoismus einpflanzen. Und ich habe von den Verantwortlichen der Universität genug, die nicht einmal fähig sind , für Sicherheit auf dem Universitätsgelände zu sorgen.

Mrs. Maie Roberts, 2441 Woodbine Avenue, schrieb: Der Versuch, einen großen Lastwagen durch Schnee und Eis zu bringen – und das mitten in einem verheerenden Schneesturm – , ist Anlass genug zu Besorgnis und es braucht dazu nicht noch eine Bande Wilder, sogenannter Studenten, die dich angreifen, um sich am Anblick deines Trübsals zu weiden.

Mrs. W.G., House of Louden, Tenn., schrieb: Es scheint, als ob Webster kein Wort über den Ekel, den Brechreiz und den Kummer verloren hat, die das unglaubliche Verhalten der Studenten ausgelöst hatten. Nicht nur die Studenten sind zu beschuldigen – wie sieht es mit den Verantwortlichen der Universität aus?

… man kann es kaum glauben, dass die Barbarei dieser Studenten weiterging, wahrend die Leute von der Ambulanz damit beschäftigt waren, einen Sterbenden in ihr Auto zu bringen. Dies beweist, dass sie selbst einem Kameraden gegenüber keinerlei Mitgefühl oder Respekt haben.

Mrs. J.L. Hans of Rockwood, Tenn., schrieb: Meines Erachtens sollten diese Jungen die den Schneeball-Unfall herbeigeführt haben, spüren dass an ihren Händen das Blut von drei Menschen klebt. Anstelle des Lastwagenfahrers gehören diese Jungen Leute verhaftet. Der Lastwagenfahrer tat nur das, was jedermann unter diesen Umständen getan hatte: er übte Selbstverteidigung.

B.J. Pritchard , 5613 Scenic Hills Road, schrieb : Der Lastwagenfahrer wird sein Leben lang mit Kummer bezahlen, wenn nicht gar mit einer Gefängnisstrafe – und so, wie es aussieht, wird letzteres der Fall sein. Wäre dies nicht geschehen, hätte er möglicherweise den Rest seines Lebens hart gearbeitet und niemandem geschadet. Er wäre kein Arzt oder Anwalt gewesen, wie viele dieser Studenten es sein werden , aber er hätte das Leben eines braven Mannes geführt, und das zählt doch, wie es immer heißt.

Möglicherweise wird er des Mordes angeklagt und entsprechend verurteilt werden . Was aber geschieht mit jenen, die das Ganze verursacht haben? Sie sind die Schuldigen! Sie haben drei Todesfälle bewirkt und hatten nicht genug Menschlichkeit in sich, ihr unmenschliches Tun beim Anblick ihrer Schuld einzustellen.

Und ein Student namens John S . Moak antwortete – zum großen Leidwesen der offiziellen Universitätsinstanzen wie folgt: Ich garantiere, wenn auch nicht persönlich, dass es auf dem Universitätsgelände buchstäblich zu einem Aufstand kommen wird , falls das Gericht dieses Vorurteil in Bezug auf den Lastwagenfahrer in Erwägung ziehen wird. Ein Grund – in der Tat der Hauptgrund – meines Schreibens ist möglicherweise das Gefühl , dass mein Leben nicht viel wert ist, wenn ein Mann jemanden von uns umbringen kann und ungestraft davonkommt.

Dekan Lewis, der ein sicheres Gefühl für die Emotionen der Bevölkerung hatte, warnte die Studenten , keine weiteren Briefe dieser Art zu schreiben. News-Sentinel erhielt aber noch zwei Wochen lang böse Zuschriften vonseiten der Ortsbevölkerung. Am Mittwoch fand die Englischvorlesung ohne Marty Goodman statt. Die Lehrerin, Nancy Fisher, bemerkte , dass sie sich nicht mehr an das Aussehen von Goodman erinnern könne; er hatte sich innerhalb der Studiengruppe nicht besonders hervorgetan. Als sie die Prüfungsarbeiten zurückgab , stellte sich heraus, dass er die von ihm erhoffte Bewertung erreicht hatte.

In der Zwischenzeit hatte sich in Greenville unter der Führung von Willetts Arbeitgeber Cutshaw ein Komitee gebildet, das für Willetts Verteidigung 100.000 Dollar zusammenbrachte. French Harris, der Polizeichef von Knoxville, erfuhr dabei, dass Willett, ein Farmerjunge, in Greenville sehr bekannt und beliebt war. Sein Ruf bei Arbeitgeber und Bevölkerung war ausgezeichnet. „Ich kann gut begreifen, was in diesem Farmerjungen vorging, als ihm diese Jungen Schnee und Eis ins Gesicht warfen“, bemerkte Harris einem Untersuchungsbeamten gegenüber. „Ich kann die Jungen ebenfalls verstehen“, fügte er hinzu , „sie hatten einfach ihren Spaß. Es ist schrecklich, schrecklich für alle.“ Aber Polizeichef Harris war skeptisch und hatte bereits eine Neuuntersuchung von Walter Lee Yows Tod angeordnet. Es schien Harris unwahrscheinlich, dass – ein Lastwagenfahrer, wie Yow einer zu sein behauptet hatte, in der Heilsarmeeunterkunft übernachten würde.

Bei einer Untersuchung der Personalien aller Lastwagenfirmen konnte kein Chauffeur namens Walter Lee Yow gefunden werden . Harris ordnete danach eine Untersuchung an, um festzustellen, ob Yow auf andere Weise nach Knoxville gekommen war. Schließlich wurde ein Buschauffeur gefunden, der Yow eindeutig als Fahrgast identifizierte , der am 1. Februar um 14:00 Uhr mit ihm nach Knoxville gefahren war. Der Bus war nicht in der Nähe der Cumberland Avenue vorbeigefahren.

Wo hatte sich Yow somit seine Verletzung zugezogen? Wo ist er hergekommen und was waren seine Beweggründe? Polizeichef Harris hat einiges herausgefunden, aber die Hauptpunkte des Rätsels bleiben ungelöst. Walter Lee Yow war ein sogenannter Fracht-Jobber – er zog im ganzen Land herum und nahm temporäre Aufträge zum Laden und Entladen von Lastwagen entgegen. Offenbar fand er seine Tätigkeit weniger würdevoll als jene eines Lastwagenfahrers, so dass er sich selber als Lastwagenfahrer bezeichnete. Er hatte sich eine Gratisfahrt mit dem Stadtbus ermogelt, indem er vorgab, ein Fahrer zu sein, dessen Lastwagen im Schnee steckengeblieben sei. Ein solcher Lastwagen ist nie gefunden worden. Ist er möglicherweise zu Fuß bis zur Cumberland Avenue gelaufen und dort von einem Schneeball getroffen worden? Polizeichef Harris hegte Zweifel: der Buschauffeur erinnerte sich, dass sich Yow bereits über seinen schmerzenden Kopf beklagt hatte, als er ihn außerhalb von Knoxville einsteigen ließ – und dies mehr als eine Stunde, bevor die Schneeballschlacht begann.

Das Geheimnis von Walter Lee Yow wird vielleicht gelöst werden. „Möglicherweise wollte er einfach, dass sein Name in die Zeitung kam“, meint Harris. „Vielleicht hoffte er, dass die Universität für seine Kopfverletzung zahlen würde – wo immer er sie sich zugezogen hatte. Oder vielleicht hatte die Verletzung sein Gehirn verletzt, und er wusste wirklich nicht, was mit ihm los war.“

Polizeichef Harris zuckt die Achseln. „Ich versuche alles, was hier auf uns zukommt, zu verstehen, aber der menschliche Geist weist viele Erscheinungen auf, die ich nie begreifen werde. Gewalttätigkeit ruft immer einige Leute auf den Plan, die sich Gewalt aus Gründen anschließen, die man nie begreift – und man fragt sich, ob sie selber es überhaupt begreifen.“

Erzähl mir von den Hasen, George …
John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen

Vielleicht können wir eine Mutmaßung in Bezug auf Walter Lee Yows Motive wagen. Jene Leute, die entrüstete Briefe an die News-Sentinel in Knoxville geschrieben hatten, liefern einen Schlüssel zu der Frage, was wohl Yow im Todeswirbel auf der Cumberland A venue gezogen hatte. Wie diese Leute sah auch er eine einzige, große, herrliche Orgie der Gewalt, und er wollte daran teilhaben, um der Sache seine eigene Meinung aufdrängen zu können. Seine Kopfverletzung ebnete ihm den Weg. Andere mussten sich damit begnügen, stellvertretend für Willett abzudrücken; unter dem Vorwand, ihn zu verteidigen, verteidigen sie sich selbst. Oder sie drohten, wie der Student Moak, mit Aufruhr, falls Willett den anderen Toten nicht gleichgestellt würde. So oder so, betrachtete jeder die Geschehnisse auf der Cumberland Avenue von seiner eigenen Warte aus.

Einige wenige Dinge konnte man über Yow in Erfahrung bringen. Er war fünfundfünfzig Jahre alt, Junggeselle und stammte aus Aubermarle, North Carolina. Einwohner von Aubermarle erzählen, dass er nett zu Kindern gewesen sei, und dass er bei einem Besuch in seinem Heimatort stets große Mengen von Schleckzeug verteilt hätte. Aber niemand weiß, wo er sich seine Kopfverletzung zugezogen hatte, und niemand wusste mit Sicherheit zu sagen, warum er im Zusammenhang mit diesem Unfall gelogen hatte.

Die Polizei hatte ihre Untersuchungen fortgesetzt, ebenso die Universität. Dekan Lewis erklärte, dass jeder Student, dessen Teilnahme an der Schneeballschlacht vom 1. Februar eindeutig erwiesen sei, von der Universität ausgeschlossen würde. Polizeichef Harris war nicht sehr optimistisch; er bezweifelte, dass jemals genügend Beweismaterial ermittelt werden könne, um gegen irgendeinen Studenten Strafklage erheben zu können. „College-Jugend steckt stets unter derselben Decke und unterstützt sich gegenseitig“, sagte er. „Wie Polizeioffiziere“, lautete seine ironische Ergänzung. Heute wird die Cumberland Avenue bei jedem Schneesturm von der Geländepolizei der Universität überwacht. Das ist sehr wahrscheinlich völlig unnötig. Der nächste Zwischenfall dieser Art wird sich an einer anderen Universität ereignen und wird genau so unerwartet ausbrechen.

Dennoch sorgten die Studenten der Universität Tennessee noch vor Ende Februar für Schlagzeilen. Am 23. Februar sind elf Jungen wegen Einbruchs in den Chattanooga National Park verhaftet worden. Sie hatten dort eine anderhalb Tonnen schwere Kanone aus dem Bürgerkrieg gestohlen. Die Kanone ist Besitztum des Bundesstaates und das Vorgehen somit eine Übeltat gegenüber dem Staat. Knaben bleiben Knaben.

Einige Monate später, am 28. Mai 1965, trat der hohe Gerichtshof von Knoxville zusammen, um über den Staatsentscheid gegen William Douglas Willett zu befinden; die Anklage lautete auf Totschlag. Nach sorgfältigen Überlegungen kam man zu dem Entscheid, dass der Staat keinen klagbaren Punkt bewiesen habe. Mit anderen Worten: die Klage auf Todschlag in bösartiger Absicht, außerhalb jeglichen Zweifels, wird durch die Tatumstände nicht erhärtet. Dieser Rechtsspruch bedeutet, dass man Willetts rechtkräftig zugestand, zur Verteidigung seines eigenen Lebens geschossen zu haben. Der Lastwagenfahrer verließ den Gerichtshof als freier Mann – falls ein Mensch überhaupt je frei ist.

Und so endete das Ganze. Warum passierte das alles? Man kann da nur wie der deutsche Kanzler Bethmann-Hollweg antworten, als dieser im August 1914 danach gefragt wurde, wie das alles begonnen hatte. Laut von Billows Memoiren erhob Bethmann-Hollweg seine langen dürmen Arme zum Himmel und erwiderte mit schwacher, erschöpfter Stimme: „Ach – wenn ich’s doch bloß wüsste!“

Auch diesen Februar hat es in Knoxville wieder tüchtig geschneit – ein Schneesturm deckte die Straße für eine ganze Woche zu –, aber es fanden keine Schneeballschlachten auf der Cumberland Avenue statt. Wenn der Tod erneut auf so sinnlose Weise zuschlägt, so könnte dies ebensogut in einer Gruppe von Erwachsenen oder im Verlauf einer Regierungsversammlung geschehen.


Zwischenfall auf der Cumberland Avenue
von Robert Anton Wilson ist im Sphinx-Magazin, Ausgabe Nr. 15 im Dezember 1981, im Original The Fatal Snowball Fight on Cumberland Avenue in The Realist, Ausgabe Nr. 65 im März 1966 erschienen.

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