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Robert Anton Wilson (1932-2007)

Robert Anton Wilson ist im gesamten Sonnensystem als auffallender Philanthrop bekannt. Zu weltweitem Ruhm gelangte Wilson erstmals in den frühen sechziger Jahren als neurologischer Philosoph. In den Siebzigern wurden seine Illuminatus!-Trilogie und sein Buch Cosmic Trigger zu Klassikern unter selbstverwirklichten Mutanten.
— Timothy Leary, Die Intelligenz-Agenten

Wurzeln und Zweige

um 1880 floh ein Mann mit einem Wal­ross-Schnauz, der Anton Milli hieß, von Triest in die Vereinigten Staaten, um nicht ins Militär zu müssen. Er ließ sich in Brooklyn nieder, eröffnete eine Schmiedewerkstatt, und als er genug Geld hatte, holte er sich seine Braut aus Triest und heiratete sie. Das waren meine Großeltern mütterlicherseits und sie starben beide, lange bevor ich auf die Welt kam. Ich weiß nichts über sie und habe Ihnen gerade alles erzählt, was ich über ihn weiß. Als ich anfing zu schrei­ben, schob ich seinen Namen zwischen meinen ein, da ich als Individualist und Pazifist seinen Mut bewunderte, über eintausend Meilen zu emigrieren, um nicht eingezogen zu werden.

Ebenfalls um 1880 verließ Alexander Wilson, mein Großvater väterlicherseits, Dublin und wurde ebenfalls in Brooklyn heimisch. Bei einem solchen Namen muss er schottisch-irischer Abstammung gewesen sein; und er war ganz bestimmt ein Protestant, denn meine Großmutter schimpfte ihn „du schwarzer Protestant“, wenn sie wütend auf ihn war. Ich nehme an, dass er in die Vereinigten Staaten kam, um Freiheit und Gelegenheit zu suchen. Er wurde Polizist. Ich habe seinen Knüppel gesehen und mich ge­fragt, wie oft er ihn auf die Köpfe Streikender niedersausen ließ, die ja auch nur versuchten, ihr Los auf dieser Welt zu bessern.

Mary O’Lachlann, meine Großmutter väterlicherseits, scheint eine Bauers­tochter aus Westmeath gewesen zu sein sowie eine fromme Katholikin. Ich weiß nicht, was sie dazu brachte, einen Protestanten aus Dublin zu heiraten. Früher, als Meath und Westmeath zusammen zur fünften Provinz Irlands gehörten, waren die O’Lachlanns Häuptlinge gewesen, einer von ihnen war im neunten Jahr­hundert Hoher König über ganz Irland; traditionsgemäß heirateten sie die O’Neils aus Ulster, die die meiste Zeit über Hohe Könige waren, außer wenn die südlichen O’Neils aus Leinster Hohe Könige waren. Unter der englischen Be­satzung waren sowohl die beiden O’Neils wie auch die O’Lachlanns während etwa drei Jahrhunderten in Rebellionen ver­wickelt, bis der Rote Hugh O’Neil, der letzte König von Ulster, nach Frankreich floh und die Engländer die ganzen katho­lischen Ländereien im Norden konfis­zierten und sie schottischen Familien gaben, unter denen die Vorfahren von Alexander Wilson aus Dublin gewesen sein mögen.

Doch Mary O’Lachlann heiratete Alexander Wilson, diesen schwarzen Protestanten; durch die Wechselfülle des genetischen Roulette hatten sie fünf Kin­der, alles Söhne, und einer von ihnen, John Joseph Wilson, heiratete Elisabeth Milli, Tochter des Wehrdienst verwei­genden Schmieds aus Triest, und des­halb gibt es mich.

Weiter zurück stamme ich von den Wikingern ab, die Irland im frühen Mit­telalter immer wieder plünderten. Ein Teil von ihnen wurde schließlich dort sesshaft, heiratete unter die Kelten und wurde Irländer. O’Lachlann bedeutet auf Gälisch Enkelsohn der Normannen. Die Kelten waren durch ganz Europa gezogen, ehe sie nach Irland, Schottland und Wales zurückgetrieben wurden; manche sagen, man würde in der Krim­gegend Russlands typisch irische Ge­sichter antreffen. Was nun Anton Milli und seine noch viel mysteriösere Frau angeht -Triest war schon so lange ein polyglotter Schmelztiegel von ltalienern, Griechen, Österreichern, Ungarn, Juden und sogar Armeniern gewesen, dass je­der in Europa und Asien ein Verwandter von mir sein könnte.

Mir gefällt der Gedanke, das zu sein, was Adolf Hitler einen Bastard ge­nannt hätte; es gibt mir ein demokra­tisches Gefühl, dass jeder, den ich an­treffe, ein entfernter Vetter von mir sein könnte.

Die Wurzeln des Schamanen

Es ist ein anthropologischer Gemein­platz, dass Schamanen hauptsächlich aus drei Gruppen rekrutiert werden: Homo­sexuelle, geheilte Schizophrene und Per­sonen, die dem Tod entronnen sind, was meistens das einschließt, was man einen Körperaustritt nennt. Andere, eine Minderheit, sind einfach zu ordinär, um eine der gewohnten Stammesrollen über­nehmen zu können. Ich vermute, dass dies auch für Künst­ler zutrifft. Beethoven fand sich von den gewöhnlichen gesellschaftlichen Tunnelrealitäten abgeschlossen, nicht nur durch seine Taubheit, sondern durch mögliche genetische Faktoren: seine Mutter war schizophren, sein Vater ein Alkoholiker, sein Neffe war Paranoiker und suizidgefährdet. Hemingway er­lebte einen Körperaustritt, als er im ersten Weltkrieg verwundet wurde. Von Robert Louis Stevenson erwartete man, dass er die Pubertät nicht erreichen wür­de. Der große Anteil an Homosexuellen und Alkoholikern unter den Künstlern ist bekannt. Joyce hatte ein Dutzend Phobien und Ängste, war aber scheinbar hellsichtig und hatte einen Hang zu Syn­chronizität sowie zu zunehmender Blind­heit (dazu einen alkoholkranken Vater und eine schizophrene Tochter).

Ich wurde geboren, als meine Eltern die Vierzig überschritten batten. Mein Vater, der es während der schlimmsten Depression verstanden hatte, seine Ar­beit zu behalten, war plötzlich arbeitslos, als die Firma, für die er arbeitete, 1937 bankrott ging. Ich war damals fünf Jahre alt. Unsere Familie erhielt während zweier Jahre irgendeine Form öffentli­cher Unterstützung, bis mein Vater eine andere Arbeit fand. Es gab damals elf Millionen Arbeitslose, doch verspürte mein Vater während dieser zwei Jahre ein Gefühl persönlichen Versagens: Es ist nicht leicht, arbeitslos zu sein, wenn man schon vierzig ist und ein neues Kind zu füttern hat. Meine Mutter war manch­mal hysterisch – ich war ein geschla­genes Kind. Einmal musste ich meinen Lehrern vorschwindeln, ich sei aus dem Fenster gefallen, um den wirklichen Grund für die blauen Flecken, die mir meine Mama verpasst hatte, zu ver­stecken. In meinem ersten Schuljahr musste ich in der Gratis-Mittagessen-­Abteilung sitzen, die für die Kinder der Arbeitslosen eingerichtet worden war. Sie können sich darauf verlassen, dass die anderen Kinder uns wissen ließen, dass sie uns überlegen waren. Ich kom­pensierte, wie Alfred Adler sagen würde, indem ich in jenem Jahr in allen Fächern die besten Noten erzielte. Das machte mich zum Lehrer-Liebling und ver­größerte meine Isolation. Als mein Vater einen neuen Job fand, beruhigte sich meine Mutter und wurde weniger gewalttätig. Vater arbeitete hart als Docker, und das war ein Schritt nach unten, gemessen an seiner früheren Büroarbeit, auch wenn es besser war, als von Almosen zu leben.

Meine Eltern waren abgedankte oder halb-abgedankte Katholiken – mein Vater sagte einmal zu mir, die Kirche sei ein süßes Geschäft -, doch mit der Inkonsequenz vieler Abtrünniger des Romanismus sandten sie mich auf eine katholische Schule. Eine der Nonnen dort war auf religiöse Horrorgeschichten spezialisiert: dämonische Besessenheit, schreckliche Exorzismen, Heilige, die eine Vision der Hölle gehabt batten und noch Jahre später davor zitterten. Heute hätte sie in Hollywood als Autorin ganz große Karriere gemacht. Eine ihrer Ge­schichten beeindruckte mich ganz be­sonders: Ein gewisser Mann glaubte, sein Glaube an Gott wäre absolut. Also streute ihm Gott Sand in die Augen, als er schlief, und blendete ihn, um ihn zu prüfen. Jahre später träumte ich nachts noch davon, und ich wusste nicht, was ich mit einem solchen Gott anfangen sollte. Lehnst du dich gegen ihn auf, wirst du auf alle Zeiten in der Hölle gefoltert; versuchst du ihm zu dienen, könnte er es in seinen verrückten Kopf kriegen, dich zu prüfen, indem er dich blind macht.

Als ich zwölf war, war der Kohleofen eines Nachts verstopft und Kohlen­dämpfe gerieten in mein Schlafzimmer und vergifteten mich. Als ich morgens zum Frühstück kam, verlor ich das Be­wusstsein. Ich wurde noch zweimal ohn­mächtig, während meine Mutter ver­suchte, mich in mein Bett zurückzu­schleppen. Als der Doktor kam – Ärzte machten in jenen Jahren noch Hausbe­suche -, wurde der Grund fur mein Pro­blem gefunden und der Kamin geflickt. Der Arzt sagte, ich hatte großes Glück gehabt, nicht gestorben zu sein.

Ich dachte kaum je wieder an diese Begebenheit, bis ich mir mit fast vierzig von einer Graphologin die Handschrift analysieren ließ. Sie sagte, ich sei irgend­wann von Gasdämpfen vergiftet worden und zeigte mir, wie sie das an der Form bestimmter Buchstaben ablesen konn­te. Sie erzählte mir auch, dass jeder, ohne Ausnahme, dessen Handschrift ähnliche Spuren einer Gasvergiftung auf­weise, medial begabt sei. Später las ich irgendwo in einer Abhandlung über Sen­sitive, dass fast alle von ihnen kurz vor der Pubertät eine todesnahe Erfahrung gemacht hatten, genau wie ich. Für ge­wöhnlich war dies ein Elektroschock, an zweiter Stelle kamen Schläge auf den Kopf. Der fundamentale Materialist wird jetzt sicher zynisch lächeln, doch sind sich meine Frau, meine Kinder und alle meine Freunde einig, dass ich hellseherisch ver­anlagt bin.

Mit achtzehn – sechs Jahre nach meinem Rendezvous mit dem Tod – befiel mich, als ich die Straße entlang spazierte, eine Art Mini-Satori: Mir schien, als seien sowohl die Zeit wie auch der Raum um mich zusammenge­brochen oder irreal geworden. Ich hatte keine Ahnung, was dies bedeuten mochte, bis ich viele Jahre später Kants Argument las, dass sowohl Zeit wie auch Raum Kategorien des menschlichen Ver­standes seien, keine wirklichen Aspekte des Universums. Nach nochmals sechs Jahren, als ich vierundzwanzig war, hatte ich eine weitere mystische Erfahrung.

Auch wenn diese Dinge schwer auszu­drücken sind, würde ich sagen, dass ich in diesem veränderten Bewusstseins­zustand fühlte, dass alles lebte – Steine und Sterne wie Tiere. Ich war bestimmt kein traditioneller Pantheist, eher schon ein Pan-Psychist: Alle Dinge schienen zwar bewusst, doch nicht in einem Führer vereint. Meins war mehr das anarche chinesische Konzept des Tao als das westliche Modell eines monarchen Gottes. Wegen dieser Erfahrungen (und anderen, die später kamen) ist mir das Euklidsche Universum in der Schachtel – die wirkliche Welt, wie sie von fundamentalen Materialisten genannt wird – nie ganz echt vorgekommen. Lange bevor ich mich in der Anthropologie und der radikalen Soziologie auskannte, nahm ich an, dass das mechanische Weltbild eine gesellschaftliche Kreation war, ein geteilter Mythos – ein Wirklichkeitstunnel, in der Terminologie, die ich bei Dr. Timothy Leary entlehnt habe.

Der Weg zur Anarchie

Vor meiner ersten mystischen Erfahrung mit achtzehn hatte ich mich aus dem katholischen Wirklichkeitstunnel hinausgelesen, indem ich meinen Kopf mit all jenen Büchern vollstopfte, vor denen die Pater und die Nonnen mich gewarnt hatten: Darwin, Tom Paine, Mencken, Ingersoll, Sinclair Lewis. Bald las ich Wissenschaftsgeschichte, Philosophiegeschichte und mit der Zeit sogar – den meist tabuisierten von allen – Marx. Ich ging an die Brooklyn Technical High und war mit intellektuellen, jüdischen Kindern befreundet. Als ich meinen Eltern sagte, dass ich nicht mehr zur Messe gehen wollte, waren sie sich einig, dass ich alt genug war, un in dieser Sache selbst zu entscheiden. Sie waren schon seit Jahrzehnten nicht mehr zur Messe gegangen, auch wenn meine Mutter manchmal in die Kirche ging, um für die Genesung von kranken Verwandten zu beten.

Als ich siebzehn war, schloss ich mich der strengsten und bigottesten der marxistischen Gruppen an, den Trotzkisten. Rückblickend scheint mir, dass ein Teil meiner selbst immer noch einen ermordeten Retter und eine Lehre brauchte. Die Trotzkisten hatten beides, zusammen mit einer Reihe von geweihten Schriften (Marx, Lenin und Trotzki selbst) und einer unfehlbaren Hierarchie, um diese heiligen Werke zu interpretieren. Ich brauchte nur etwa acht Monate, um zu realisieren, dass ich mich in einer anderen Version der katholischen Kirche befand, der ich zu entfliehen geglaubt war. Ich begann, Parteidogmen zu hinterfragen, was zu einem Verweis wegen bürgerlichem Individualismus führte. Ich fand das merkwürdig, denn der Rest der Zelle kam aus dem soliden Mittelstand, wohingegen ich wirklich aus einer Arbeiterfamilie war. Ich glaube ich ging, kurz bevor sie mich ausschlossen.

Während ich mich in einer Jugend von zwei dogmatischen Sets zu befreien versuchte, scheine ich dem Glaubenszentrum in meinem Gehirn permanenten Schaden zugefügt zu haben. Ich habe immer noch Meinungen, wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, doch bin ich unfähig, voll an irgendetwas zu glauben und gehe mit dem Physiker Jack Sarfatti einig, dass „Glauben einer absoluten Aristotelschen Kategorie angehört“. Da die moderne Kosmologie sowohl ein starkes wie auch ein schwaches anthropisches Prinzip zulässt (das erste bedeutet, dass das menschliche Leben in diesem Universum unvermeidlich, das zweite, dass es nur sehr wahrscheinlich ist), habe ich vorgeschlagen, dass es analog dazu ein starkes und ein schwaches agnostisches Prinzip gibt. Letzteres wird heute von gebildeten Menschen allgemein anerkannt, da sie viel undogmatischer und toleranter als ihre Vorfahren sind. Das starke agnostische Prinzip, das in allen meinen Büchern zum Ausdruck kommt, besagt, dass das Universum so dicht, vielschichtig und komplex ist, dass wir verschiedene Modelle oder Realitätstunnel daraus ableiten können, die alle zu einer gegebenen Zeit mehr oder weniger plausibel sind. Starker Agnostizismus in diesem Sinn tritt auch in der Quantenphysik, in der kulturellen Anthropologie, in der Ethnomethodologie und in Tim Learys Psychologie zutage.

Als ich mit der Mittelschule fertig war, nahm ich einen Job als technischer Zeichner an und fing an, die Abendklasse des Brooklyn Polytechnic Institute zu besuchen, um eines Tages Ingenieur zu werden. Ich hatte eine Begabung fur Mathematik, doch sehr wenig Interesse an der praktischen Seite des Ingenieurswesens – an den Reparaturen von defekten Instrumenten oder der endlosen Reihe von Tests, um herauszufinden, warum zum Teufel ein Gerät nicht funktionierte, wie es funktionieren sollte. Schlussendlich gab ich mein Ingenieurstudium auf und fand nach und nach den Weg in eine literarische Karriere, doch meine ich, den vier Jahren am Brooklyn Tech und den sieben an praktischer Ingenieursarbeit und Abendschule viel zu verdanken. Auch wenn ich immer noch ein Agnostiker in Sachen Paradigmen bin und erwarte, dass ein jedes von ihnen mit der Zeit von einem besseren überholt werden wird, behalte ich mir eine tiefe Überzeugung vor, dass das Unium von jenen, die einen mathematischen Formalismus nicht durch eine instrumentale Messung bestätigt haben, verstanden zu werden. Es ist etwas nahezu Großartiges, wenn man die Wechselstrom-Gleichung anwendet und dann die Sinus-Kurve auf dem Oszillographen tatsächlich sieht! Oder wenn man Gleichungen mit dieser enigmatischen Quadratwurzel von minus eins löst und dann findet, dass der Voltameter mit der Gleichung übereinstimmt. Es ist sogar noch eindrücklicher zu verstehen, dass bei der Gleichung für das System von Gewichten an Federn – partiell eine Differentialgleichung – dieselbe Formel angewendet wird, wie bei der Gleichung fur ein elektrisches Netzwerk; Leitfähigkeit, Widerstand und Scheinwiderstand inbegriffen. Dass zwei solch unähnliche physische Systeme dieselbe tiefe mathematische Struktur aufweisen, entlockt mir dieselbe ästhetische Reaktion, die Plato dazu führte, hinter den phänomenalen Begebenheiten einen zeitlosen Bereich reiner Formen oder Ideen zu postulieren. Oder wie Sir Arthur Eddington zu beschließen, dass das Universum „mehr wie ein großer Gedanke als eine große Maschine“ ist. Dies wiederum veranlasste Jack Sarfatti zu argumentieren: „Genau wie die Relativität enthüllte, dass die Materie ein Energiemuster ist, so zeigt die Quantenmechanik ihrerseits auf, dass Energie ein Phänomen der Information ist.“

Nachdem ich meine Ingenieursarbeit aufgab, rackerte ich mich durch eine Vielzahl mieser Jobs, während ich versuchte, mich als Schriftsteller zu etablieren. Ich gab fur Procter & Gamble von Tür zu Tür Gratismuster ab. Ich war Krankenpfleger. Ich war zweieinhalb Jahre lang beinahe Schriftsteller, d. h. ich schrieb Werbetexte. Ich arbeitete der Reihe nach für verschiedene Zeitschriften und landete schließlich als stellvertretender Chef-Redaktor bei Playboy, wo ich sieben Jahre blieb.

In der Zwischenzeit war ich zum philosophischen Anarchisten im Sinne Tolstois, Joyces oder Benjamin Tuckers geworden. Ich war nie ein revolutionärer Anarchist im Sinne Bakunins gewesen; ich glaubte nicht daran, dass die Utopie einfach dadurch erreicht werden konnte, dass man das bestehende Klassen/Kasten-System über den Haufen warf. Ich hatte das Gefühl, dass die Primatenhierarchie eine evolutionäre Stufe sei, der man entwachsen, nicht entweichen müsse. Joyce, der ein besonderer Held für mich war, steuerte den Gedanken bei, dass Kunst ein äußerst wichtiges Werkzeug in der Evolution zu einem höheren Bewusstsein sein sollte, indem man eine epistemologische Rebellion anzettelte, die andere dazu ermutigte, sich ebenfalls selbst zu definieren und zu verwirklichen, wie dies der Künstler tut. Mit anderen Worten, da ich – sei’s durch  genetische Veranlagung oder frühe Prägungen – von den gewöhnlichen Schulrollen und Definitionen der Wirklichkeit abgeschnitten war, erwartete ich von allen, sie würden auch eine Art Außenseiter oder Häretiker werden. In diesem utopischen Mystizismus wurde ich auch von William Blake sehr bestätigt („Ich muss ein eigenes System erfinden oder durch das eines anderen versklavt werden; ich werde weder argumentieren noch vergleichen, mein Geschäft ist es zu schöpfen“) und natürlich auch von Nietzsche („Der Mensch ist eine Brücke zwischen dem Affen und dem Übermenschen – eine Brücke, die über einen Abgrund führt“). Ich wurde ebenfalls nachhaltig beeinflusst vom wenig bekannten deutschen Skeptiker Max Stirner, der von einer Warte der würdigen Subjektivität ausgeht („Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist das, was in meinem eigenen Kopf vorgeht“), bis hin zu einer Zurückweisung aller sozialistischen und idealistischen Philosophien außer dem Versuch eines jeden Individuums, sich von der gesellschaftlichen Definition von gut, schlecht, wirklich, unwirklich, usw. zu befreien.

Den stärksten Einfluss dieser drei hatte Joyce, der völlig menschengerechte Romane schrieb, in welchen wir alle wissen, was in den Gehirnen seiner verschiedenen Figuren vor sich geht und nie sicher sein können, was sonst noch wirklich ist, und dessen Rebellion gegen konditionierte Ideen sich von einem Buch zum nächsten steigerte zu heftigeren und heftigeren Übertretungen der akzeptierten Moral- und Wirklichkeitsvorstellungen, sowie des guten Geschmacks. Wie Max Patrick Hedermann es kürzlich in Irlands bester literarischen Zeitschrift, The Crane Bag, ausdrückte:

Die Interpretation der Menschlichkeit, wie sie Joyce in Ulysses und Finnegan’s Wake gibt, zwingt uns, alle überlieferten Begriffe der Psychologie, Moral, Philosophie und Theologie zu hinterfragen. Über das Medium der Kunst ist es ihm gelungen, die Geschichte der westlichen Zivilisation auf den Kopf zu stellen. Man kann ihn natürlich auch ignorieren, als Häretiker verschreien, doch werden seine Werke, trotz jeden Versuchs, sie zu zerstören, ein ewiges Fragezeichen sein, entgegen all dem, was uns die Philosophie, Religion oder Literatur über das wirkliche Wesen des Menschen glauben machen möchte.

Ich wage zu hoffen, dass meine eigenen Werke genauso subversiv und provokativ seien und wünsche mir, dass sie so witzig sind wie die von Joyce.

Guerilla-Ontologie

Eine der wichtigsten Einflüsse auf meine schriftstellerische Tätigkeit ist The Forms of Prose, ein Essay von Northrop Frye, das ich in der Hudson Review las, als ich noch versuchte, Ingenieur zu werden. Frye entwirrte den Faden, er definierte vier Formen der Literatur. Hier sind sie:

  1. Der eigentliche Roman, der beinahe einen Zweig der Soziologie oder Anthropologie darstellt. Eine realistische Beschreibung dessen, wie sich Menschen zu einer gegebenen Zeit an bestimmten Orten verhielten, welchen Gesetzen sie unterlagen, welche historischen Kräfte sie formten (oder missformten). Beispiele: Krieg und Frieden, Jahrmarkt der Eitelkeit, alles von John O’Hara.
  2. Die Romanze, welche an einem wirklichen oder erfundenen Ort stattfinden kann, die sich doch grundsätzlich mit Jungschen Archetypen und großen rituellen Themen befasst, die das kollektive Unbewusste beeinflussen. Beispiele: Die Sturmhöhe, Der Herr der Ringe.
  3. Die Geständnisse, die grundsätzlich die Geschichte des inneren Wachstums einer Person darstellen, meist des Autoren selbst, der sich hinter einer erfundenen Figur versteckt. Beispiele: Der Weg allen Fleisches, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, Schau heimwärts, Engel.
  4. Die Anatomie, die in ihrem Ausmaß immer enzyklopädisch und, was ihren Zweck angeht, satirisch und didaktisch ist. Diese kombiniert die anderen drei Formen und verwendet vielerlei Abschweifungen und abrupte Änderungen in Ton und Thema als Teil seiner grundsätzlichen Struktur einsetzt. Beispiele: Rabelais, Swift, Tristram Shandy, Ulysses.

Meine Bücher sind allesamt Anatomien im Freyschen Sinn. Mein Held mag zu einer Suche aufbrechen, wie jeder romantische Ritter, doch bald trifft er auf Labyrinthe und andere Wirklichkeiten à la Gulliver und seine persönliche Suche wird Teil eines Mosaiks, das zu groß ist, um von einem Gehirn allein verstanden zu werden. Wie in jeder Anatomie sind diese Abschweifungen paradoxerweise wichtiger als das Thema, von dem sie auszugehen scheinen.

Die klassischen Anatomisten (vor Joyce) gingen rein satirisch vor: Andere Wirklichkeiten wurden als Kontrast fur die Verrücktheiten und Grausamkeiten der eigenen Gesellschaft eingesetzt. Dies ist immer noch eine der wichtigsten Funktionen der allgemeinen Science Fiction, Heinleins Bürger der Milchstraße hat dieselbe Form wie Gullivers Reisen. Etwas anderes fing sogar vor Joyce an zu passieren, in Samuel Butlers Erewhon, das weder Utopie noch Dystopie ist: man weiß nie, ob die erewhonischen Gewohnheiten besser oder schlechter oder lediglich auf schockierende Weise verschieden von unseren eigenen sind. Butler lehrte uns keine Lektion oder einfache Reihe von Lektionen wie Swift; er versuchte seinen Leser zum Denken in verschiedenen Kategorien anzuregen, ihn dazu zu bringen, Alternativen zu betrachten.

Joyce tat den unvermeidlichen, nach-Humeschen, nach-Einsteinschen, nächsten Schritt in Ulysses. Es gibt multiple Perspektiven; alle scheinen sie einen gewissen Grad der Ironie aufzuweisen; der Autor selbst geht in ein scheinbares Kommitee von Autoren auf, von denen keiner wirklich vertrauenswürdig ist. Die Newtonsche Objektivität ist verschwunden, es waltet die Einsteinsche Relativität. Joyce-Experten streiten sich immer noch darüber und werden sich bis in alle Ewigkeit darüber streiten, wieviel Ironie und wieviel Mitgefühl Joyce einer jeden seiner Figuren entgegenbrachte. Die Sorte Ambiguität wird zur Perfektion dargestellt an dem, was ich das Garry Owen-Prinzip nenne, nach dem geheimnisvollen Hund, der Barney Kiernans Pub heimsucht. Laut einem Erzähler ist Garry eine „schorfige Promenadenmischung“ mit einem hinterlistigen Charakter, der „aus reinem Mitleid erschossen gehört“. Hört man auf einen anderen Erzähler, ist Garry ein „wunderbarer alter Hund“, mit einer einnehmenden Art. Welches ist der wirkliche Garry Owen? Wie Einstein deutet Joyce an, dass dies vom Koordinatensystem des Betrachters abhängt.

Dieses Prinzip durchdringt den ganzen Ulysses; Hugh Kenner nahm sich kürzlich die Mühe, das Budget für den Tag des Kapitels Siebzehn zu kontrollieren und fand heraus, dass es von Bloom vorsichtig frisiert worden war, um das Geld zu verstecken, das er im Bordell ausgab. Der Erzähler jenes Kapitels, scheinbar die objektive wissenschaftliche Stimme des Buchs, steckt mit Bloom unter einer Decke, um peinliche Fakten zu verstecken.

An diesem Punkt angelangt geht die Literatur über bloße Unterhaltung wie auch über bloße Unterweisung hinaus und betritt den Raum des Puzzles, des Spiels und des epistemologischen Geheimnisses. Manche Leser steigen jetzt unter Gemurmel von empörten Bemerkungen über Subjektivismus und Obskurantismus aus. Mir scheint, dass Joyce die einzig mögliche Richtung nach Hume und Einstein einschlug; nach Nietzsche, nach der Quantentheorie. Dort draußen ein objektives Universum und einen objektiven Erzähler, eine objektive Stimme anzunehmen, die durch Panzerglas von dem abgeschnitten ist, was geschieht, heißt Newtonsche Mythologie wieder zu dem erheben, was wir heute als völlig unzulänglich erkennen. Romane, die in diesem Stil geschrieben sind, betrachte ich als unbewussten Archaismus oder ungewollten Kitsch.

Nach Joyce und solchen radikalen Zweigen der Sozialwissenschaften wie die allgemeine Semantik und die Ethnomethodologie baue ich meine Romane wie Aktionen in einer Guerilla-Ontologie-Kampagne auf. Das starke agnostische Prinzip findet überall Anwendung. Wie in einem Thriller von Erich Ambler oder Len Deighton wird jeder, der meint, er wisse was los ist, brutal enttäuscht. Wie im surrealistischen Humor der Marx Brothers oder Monty Pythons kann die Metaphorik von Traum und Alptraum in das eindringen, was eine realistische Situation zu sein scheint. Die Schurken des einen Buchs können die Heiden des nächsten sein. Eine rhetorische Haltung, die verwendet wird, um gewisse Annahmen oder Trends der modernen Gesellschaft zu verulken, fällt schließlich einer Satire zum Opfer. Der Stil wechselt, um sich den Leidenschaften, den Vorurteilen und den Manien der Figuren anzupassen, die gerade dominieren. In Schrödingers Katze babe ich Kommentare eines Psychiaters eingeflochten, der mich für verrückt und das Buch für das Produkt eines gestörten Geistes hält, doch babe ich auch andere Kommentare eingeschlossen, von Leuten, die dieses Buch als ein Handbuch für Schamanismus verstehen, als allegorische Darstellung der Prinzipien der Quantenmechanik und als Abhandlung über das Verhalten von domestizierten Primaten. Ich babe mir große Mühe gegeben, damit
alles in diesem Buch gleich gut zu diesen Interpretationen passt.

Wenn man mich interviewt, fragt man mich immer: „Wie ernst ist es Ihnen eigentlich?“ Ich antworte meistens, dass Ernsthaftigkeit keines meiner Laster sei, doch wäre es genauso wahr zu sagen, wie dies Shaw einmal tat: „Der größte Witz an der Sache ist, dass ich es völlig ernst meine.“ Das starke agnostische Prinzip ist ein Angriff auf jede Form von Sicherheit und Intoleranz – auf jede Art von Aufrechterhaltung des Egos, um es psychologisch auszudrücken. Die Bemerkungen, die ich in Buchbesprechungen am meisten schätze, sind nicht die, in denen irgendein Typ sagt, ich sei ein komisches Genie oder etwas in der Art. Wenn das Wort Geschmacklosigkeit auftaucht, babe ich das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Wenn es Anarchie, Chaos, sinnloses Gefasel, Pornografie, roh und verletzend oder Unzusammenhängende Belanglosigkeiten heißt, fang ich an zu strahlen, denn dann weiß ich, dass ich einen wirklichen Eindruck auf jemandes Heuchelei gemacht babe. Ich schätze es am meisten, wenn man mir vorwirft, ich sei ein vorsätzlicher Plagegeist.

Es scheint mir, dass es grundsätzlich nur zwei Arten von Büchern gibt: Solche, die beruhigen, narkotisieren, einlullen und uns im allgemeinen mit dem versöhnen, was Vinaver die unausweichliche Wirklichkeit, die unheilbare Verzweiflung der Welt nennt und die mit dem, was ich Guerilla-Ontologie oder Unterwanderung nenne. Die Schöpfung als Widerstand gegen alles was unbeweglich, konditioniert, mechanisch ist und nur als Notwendigkeit erscheint. Um nochmals Nietzsche zu zitieren: „Ich schreibe mit Blut, ich will mit Blut gelesen werden.“

Viele Welten

Natürlich weiß jeder empfindsame Leser, dass es hinter den vielen Wirklichkeitstunneln meiner Bücher einen zusammenhängenden Gedanken gibt, der durch meinen allgemeinen Agnostizismus nicht beeinträchtigt wird: Ich spreche von meinem Hass der Gewalt, der Grausamkeit und des Kriegs. Heute tobt der Krieg meist gegen die Zivilbevölkerung – gegen die Unbewaffneten und Hilflosen, gegen kleine Kinder und alte Damen und Hunde und Katzen. Ich finde nichts Heldenhaftes oder Vornehmes am Massenmord, da ich die bittere Wahrheit von Raymond Chandlers Bemerkung kenne, dass der Mord ein „Akt unendlicher Grausamkeit“ ist. Mord an Wehr- und Hilflosen ist nicht nur unendlich grausam, sondern auch unendlich feige.

Als Schriftsteller habe ich eine Leidenschaft für Sprache und Genauigkeit: für das Konkrete, Zutreffende, für das, was Wissenschaftler eine operationelle und Semantiker eine extensive Sprache nennen. Es stößt mich überhaupt ab, dass Millionen ermordet werden, so wie es mich abstößt, dass die Politiker das, was sie tun, hinter solch bedeutungslosen Abstraktionen verstecken wie  Nationale Ehre, Verteidigung der Freien Welt, unsere ruhmreiche Vergangenheit. Ich hätte zum Beispiel ein kleines Krümelchen Respekt vor Ronald Reagan, wenn er wenigstens einmal direkt und konkret sagen würde: „Wir müssen am Essen sparen, weil wir mehr Geld brauchen, um den Mord von weiteren 150 Millionen Kindern, weiteren 300 Millionen alter Damen und einigen Millionen Menschen verschiedener Altersstufen zu planen.“ Kürzlich hat Who’s Who beschlossen, mich in ihre nächste Ausgabe aufzunehmen. Ihre Politik geht jetzt dahin, dass sie jeden Biographierten bitten, ein kurzes Statement abzugeben über die Lektionen, von denen er oder sie im Leben am meisten gelernt hat. Ich war überglücklich, meine persönlichen Ansichten in einem so oft konsultierten Nachschlagewerk einbringen zu können. Ich schrieb: „Im Atomzeitalter ist der Frieden zum Überleben genauso notwendig wie Nahrung und Wasser. Jeder Pazifist, ganz gleich wie sentimental, ist wenigstens gesund und jede Nation, die sich für den Weltkrieg rüstet, ist schwer krank. Lasst uns alle weder Heilige noch Heiden sondern geschickte Verhandlungspartner sein.“

Verhandlungen verlangen alle Qualitäten, die ein guter General hat: nüchterne Urteilskraft, hohe Intelligenz, eine Fähigkeit zu wissen, was die andere Seite wirklich denkt und sogar ein gewisses Talent für Bluff und Bravour. Dies sollte ein passendes Ventil für die macht-empirischen Impulse des Männchens der Spezies sein und kann sogar so spannend wie Schach, so aufregend wie Fußball sein. (Es zwingt einen auch, an andere Wirklichkeitstunnel zu denken.) Der Massenmord an Hilflosen setzt heutzutage keinerlei Tapferkeit voraus, nur Dummheit, Brutalität und einen völligen Mangel an normalem, menschlichen Mitgefühl. Wenn die menschliche Rasse überleben soll, müssen die Impulse, die früher, im Krieg ausgedrückt wurden, heute in geschicktes Verhandeln umgeleitet werden.

In den letzten zehn Jahren, als ich in Kalifornien lebte, verbrachte ich so viel Zeit wie nur möglich in sehr unterschiedlichen Wirklichkeitstunneln. Zum Beispiel hatte ich sehr viel mit der Bay Area Cryonics Society zu tun, einer Gruppe von brillanten jungen Wissenschaftlern, die glauben, Langlebigkeit und sogar physische Unsterblichkeit stünden kurz vor dem Durchbruch. (Viele radikale Wissenschaftler glauben dies inzwischen; ihr Standpunkt wird gut vertreten in The Conquest of Death von Dr. Alvin Silverstein und Prolongevity von Albert Rosenfeld.)

Eigenartigerweise machen sich, wo auch immer ich über die Revolution der Lebensverlängerung spreche, Leute von gewöhnlichen, traditionellen Kirchen den Immortalitäts-Gedanken zu eigen. Sie sehen darin eine Rechtfertigung der Prophezeiung des Heiligen Paulus, wonach „der Tod der letzte Feind ist, den wir besiegen werden.“

Viele New Age-Mystiker sind jedoch ziemlich aufgebracht über dieses ganze Anti-Tod-Konzept, und sie prangern mich in Diskussionen immer wieder als oberflächlichen Materialisten an. Dies amüsiert mich nicht wenig, denn da ich entsprechend meiner Philosophie in verschiedenen Realitätstunneln zugleich lebe, war ich auch eine Zeit lang ein praktizierender Christian Scientist und ein Hexer. Christian Science hat mir so oft geholfen, dass ich noch heute ab und zu darauf zurückgreife und es der orthodoxen allopathischen Medizin in den meisten Fällen vorziehe, doch ist mir die eigentliche Kirche zu konservativ und prüde.

Ich fand es bei den Hexen lustiger, die in den Wald gehen, ekstatisch tanzen und versuchen, den Mond zu beschwören, um gutwillige, paranormale Wirkungen zu erzielen. Ich habe genügend Erfolge oder scheinbare Erfolge gesehen, um zu glauben, dass es funktioniert. Als Agnostiker habe ich die Göttin natürlich nie wörtlich genommen, und auch der Mann, der die Rituale für jeden besonderen Bund schreibt, ein talentierter Dichter, der heute seine längst verdiente Anerkennung genießt, hat mir gegenüber eingestanden, dass Sie auch für ihn nur eine Metapher sei.

Eine Zeit lang hatte ich mit den Sufis zu tun, einer freundlichen Sekte von Mystikern, die mehr Verwirrung unter den Philosophen und Theologen zu stiften vermocht haben als irgendeine andere religiöse Gruppe. Manche sagen, die Sufis seien Teil des Islam, andere hingegen, der Sufismus sei viel älter und gehe auf den Zoroastrismus zurück, manche behaupten, der Sufismus habe innerhalb der islamischen Welt als christliche (gnostische) Häresie angefangen. Was auch immer daran wahr sein mag, die Sufis sind eklektisch, ökumenisch und – wenigstens diejenigen, die ich kenne ­- zum großen Teil agnostisch allem gegen­über, außer ihrer Behauptung, dass ge­wisse von ihnen praktizierte Techniken erweiterte Bewusstseinszustände herbei­führen können, die sehr aufschlussreich sind, um es einmal so zu sagen. Der Sufismus weist verschiedene gemeinsame Techniken sowohl mit Hexerei als auch mit Stammes-Schamanismus auf, doch ähnelt er von der Philosophie her eher dem Buddhismus und dem mystischen Christentum. Der Hauptnachdruck liegt dabei, und das ist es, was mich am meis­ten interessiert, auf ihrem Glauben, dass die Evolution auf der Schwelle zu einem Quantensprung stehe, den die Sufis den Nächsten Schritt nennen, und der vom Übermensch-Gedanken Nietzsches nicht weit entfernt ist. Vielerlei dieser Kon­zepte findet man ebenfalls in den Science-Fiction Romanen Olaf Stapledons, und ich habe mich sogar schon oft gefragt, ob Stapledon ein Sufi ist. Sowohl sein Die letzten und die ersten Menschen wie auch Odd John lesen sich so, als seien sie als Romane getarnte Sufi-Übungsbücher.

Während den siebziger Jahren war ich in Kalifornien auch in Gesprächen und späteren Seminaren mit einer Gruppe von Physikern involviert, darunter Saul Paul Sirag, Dr. Fred Wolfe, Dr. Nick Herbert und Dr. Fritjof Capra. Alle waren sie fasziniert von einer 1965 von Dr. John S. Bell veröffentlichten mathe­matischen Beweisführung, die als Bells Theorem bekannt ist. Dieser Nachweis zeigt mit mathematischer Präzision, dass das Universum in einem viel tieferen Sinne monastisch ist, als wir dies bis jetzt annahmen, wenn die Gesetze der Quantenmechanik gültig sind.

Dr. Bell hat kürzlich eine gemütliche Analogie für diesen erstaunlichen Monis­mus gefunden. Da dieser Gedanke in meinen Büchern eine große Rolle ge­spielt hat, werde ich sie hier nacherzäh­len.

Nehmen wir an, sagte er, es gibt zwei Männer, einen in der Schweiz und einen in Hongkong und nehmen wir weiter an, dass jedes Mal, wenn der Schweizer rote Socken anzieht, der Mann in Hongkong blaue trägt. Letztlich nehmen wir an, dass man den Schweizer ab und zu dazu überreden kann, auf blaue Socken um­zusteigen, und dass darauf der Mann in Hongkong jedesmal augenblicklich (ohne jede Kommunikationsmöglichkeit) auf rote Socken wechselt. Dies beinhaltet, dass beide durch einen unsichtbaren Einfluss kontrolliert werden, der weder durch den Raum noch durch die Zeit begrenzt wird. Bells Theorem zeigt le­diglich auf mathematische Weise, dass die Partikel der Quantentheorie sich so verhalten müssen, wenn die allgemein akzeptierten Gleichungen tatsächlich gültig sind.

Einstein hat dies schon 1935 gemerkt, und es führte ihn dazu vorzuschlagen, dass die akzeptierten Gleichungen un­gültig seien, da eine Kohärenz durch Raum und Zeit unglaublich scheint. In den Gleichungen sind jedoch keine Fehler gefunden und Bells Folgerungen sind experimentell bestätigt worden. Da mir entweder die Gasvergiftung, die ich mit zwölf erlitt, oder eine andere gene­tische Veranlagung erlaubt, von Zeit zu Zeit an dem teilzuhaben, was mir wie ein zeitloser, raumloser Bereich vor­kommt, finde ich Bells Arbeit natürlich sehr spannend. Wenigstens lässt er die Möglichkeit offen, dass ich nicht ver­rückt bin.

Die meisten Physiker, mit denen ich in den siebziger Jahren zu tun hatte – Sirag, Herbert, Capra – interessierten sich für Bells Theorem als mögliche Brücke zwischen der Physik und der Psychologie, einem festeren Mechanis­mus, um die erstaunlichen Phänomene der bedeutungsvollen Zufälle zu un­tersuchen, die der Psychologe C.G. Jung und der Quantenpionier Wolfgang Pauli Synchronizitäten nannten. Dr. Jack Sar­fatti glaubt auf mehr schillernde Art, dass Bells Mathematik die Möglichkeit einer Kommunikation mit schnellerer Geschwindigkeit als das Licht impliziert. (Einstein spezielles Relativitätsprinzip schließt lediglich Signale davon aus, sich schneller als das Licht fortzubewe­gen. Sarfatti argumentiert, dass reine Information vielleicht weniger begrenzt als Energie ist.)

Jack Sarfatti schlug ein theoretisches Schneller-denn-Licht-System vor, um seine Interpretation von Bell zu testen. Aus technischen Gründen ist der Bau eines solchen Systems noch nicht mög­lich. Inzwischen kommt es zu theoreti­schen Problemen, wenn ein solches Ge­rät auch nur theoretisch möglich ist. Das Großvater-Paradox, das alle Science-Fiction Leser kennen, beißt sich in den eigenen Schwanz: Könnte ich meinem Großvater, Anton Milli, eine Botschaft senden, würde das die Ge­schichte auf solche Art verändern, dass ich gar nicht hier wäre, um sie zu senden. Die einzige mögliche Antwort hierauf ist, laut Saul Paul Sirag, dass wir das Modell eines multiplen Universums ak­zeptieren, wie von Everett, Wheeler und Graham der Universität Princeton vor­schlagen. Es gibt in diesem Modell viele parallele Universen, so dass die dem Großvater geschickte Botschaft nur ein weiteres, paralleles Universum kreieren würde. Dr. Bryce DeWitt schätzt, dass es schon mehr als 10¹⁰⁰ solcher Universen gibt – jedes durch eine andere Quanten­verschiebung entstanden – , so dass SDL (Schneller-denn-Licht-Kommunikation) einer überwältigenden Phalanx von alter­nativen Welten nur eine weitere hinzu­fügen würde.

Dr. Nick Herbert, ein anderer dieser Gruppe, argumentiert, Bells Mathema­tik beweise, dass das Universum oder die Universen SDL aufweisen, doch be­stand er während sehr, sehr langer Zeit (aus verschiedenen, mit der Heisenberg­schen Unschärferelation zusammenhän­genden Gründen) darauf, dass wir dieses Wissen nie anwenden könnten, um unse­re eigenen SDL-Botschaften auszusen­den. Dies führte zu endlosen Debatten zwischen ihm und Sarfatti, und bald wurden ihre Briefe auch an weitere Wissenschaftler herumgereicht, bis sechs weitere (theoretische) SDL-Systeme ver­schiedensten Ursprungs auftauchten. Das Lustigste ist dabei, dass Dr. Her­bert, nachdem er Sarfattis und alle an­deren sechs Systeme verwarf, nun mit einem eigenen System hervorgetreten ist, von dem er behauptet, man könne es testen.

Nun brauche ich Ihnen nicht lange zu erklären, dass das Wort unmöglich keinerlei Sinn mehr haben wird, ist SDL einmal erreicht. (In diesem Zusammen­hang möchte ich auf mein Schrödingers Katze und James Hogans neuerem Thrice upon a Time hinweisen.) Multiple Uni­versen sind die geringsten Probleme, mit denen wir dann konfrontiert sein werden. Man wird dann realisieren, dass alles nur in einer kontingenten Realität stattfindet und derlei buddhistische Para­doxa wie Sein und Nicht-Sein sind einerlei werden dann so einleuchten, wie wir heute wissen, dass zwei plus zwei vier sind.

In jenen Jahren lernte ich auch Dr. David Finkelstein kennen, der behaup­tet, mehr als eine Lösung zum onto­logischen Quantenproblem gefunden zu haben. Er hat die Aristotelische Logik mit ihrem Entweder/Oder verworfen und sie durch von Neumanns trivalente Logik ersetzt. „Zusätzlich zu einem Ja oder einem Nein,“ sagt Finkelstein, „enthält das Universum ein Vielleicht.“ Und wieder zeigt sich die Wirklichkeit als kontingent und der gesunde Men­schenverstand stirbt auf dem Altar des Quantenigmas.

Beim Umherirren zwischen den Rea­litätstunneln der kryonischen Unsterb­lichkeits-Bewegung, deren Mitglieder Tausende von Jahren und vielleicht mehr zu leben hoffen, den Hexenbundlern, den Christian Scientists und den Sufis, die Energien angezapft haben, die weit über die kartesische Barriere zwischen Geist und Materie hinausgehen, und diesen Physikern, die von raumlosen, zeitlosen, platonischen Monismen, In­formationssystemen, die sich mit einer grösseren Geschwindigkeit als die des Lichts fortbewegen, parallelen Welten und einer Logik ausgehen, die das Viel­leicht umfasst, könnte ich kaum kon­ventionelle Romane schreiben. Ich glau­be, mein schwarzer Humor ist von manchen Kritikern überbewertet wor­den; ich habe lediglich die Verkehrs­zeichen der konventionellen Wirklich­keitskarte hinunter genommen und sie durch die Fragezeichen ersetzt, die von den perzeptiveren Geistern unserer Generation verfolgt werden.

Sonnenuntergang und Abendstern

Zwischen 1976 und 1979 befielen meine Familie und mich eine Serie schrecklicher Tragödien. Ich möchte diese Begeben­heiten hier nicht in allen Einzelheiten schildern, da die Wunden davon immer noch schmerzen. Es gab drei Todesfälle unter denen, die ich zutiefst liebte, schockierend schnell hintereinander, ge­folgt von schweren Krankheiten anderer, die ich liebte, und wo es jeweils so aus­sah, als würden auch sie sterben. Zwi­schen der Trauer über die Verluste und der Angst vor weiteren war ich selbst ein guter Kandidat für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Befreundete Psychiater, kli­nische Psychologen und weniger ortho­doxe Heiler halfen mir ab und zu, und ich bin ihnen auf immer verpflichtet.

Während diese emotionelle und physi­sche Krise andauerte, wurde ich plötz­lich auf bescheidene Art berühmt. Man lud mich ein, an Universitäten zu sprechen; ich wurde von Zeitungen und Zeitschriften interviewt, war der Ehren­gast an verschiedenen Tagungen. Da ich ein humoristischer Schriftsteller sein sollte, erwarteten alle von mir, dass ich auch lustig war; und ich versuchte, nie­manden zu enttäuschen. Inzwischen fragte ich mich, wer von den beiden Schwerkranken, die ich liebte, als näch­ster sterben würde. Ich wurde hin-und hergerissen zwischen meiner bescheide­nen Berühmtheit und meiner dauernden Sorge um meine Lieben, und ich hatte nie Zeit, meinen Kummer über die drei Todesfälle zwischen 1976 und 1979 richtig auszuleben.

Wie jede auch nur bescheiden erfolg­reiche Person weiß, wird man, ist man einmal bekannt, zur Zielscheibe gewis­ser unglücklicher Menschen. Auch ich erhielt meinen Anteil an anonymen Brie­fen, die mich als Werkzeug des Kapi­talismus, Satans, als CIA-Agenten, usw. denunzierten. Manche dieser Typen ver­schafften sich meine Telefonnummer, und ich musste sie ändern, um verrückte Anrufe zu nächtlicher Stunde zu ver­meiden. Mein Hund wurde überfahren. Wir kauften einen neuen, der wegen eines Herzversagens prompt tot umfiel. Irgendein Kerl, dem meine Ideen nicht gefielen, bewarf mich mitten in einem Vortrag mit einer Sahnetorte; als ich den metallenen Schimmer der Tortenplatte zuerst sah, dachte ich, er käme mit einem Messer oder einer Pistole auf mich los. Ich fing an, mich stark mit jener Szene am Ende des Films Papillon zu identifi­zieren, in der Steve McQueen dem leeren Himmel entgegenschreit: „Ich bin immer noch hier, ihr Hundesöhne!“

Ein Beispiel für die Transformation meiner Sensibilität in jenen Jahren: Ich kaufte einige Briefumschläge der Theta Seminare, einer Bewusstseins-Gruppe, die ich bewundere. Die Umschläge tru­gen das Motto: „Wenn du nicht lachst, bist du verrückt.“ Ich brauchte nie eines davon, weil ich mir des Potentials an abrupter Tragödie dieser Welt so sehr gewahr war, dass ich Angst hatte, wem ich auch immer eins schicken würde, hätte gerade einen Verlust erlitten, der diesen Slogan grotesk und beleidigend machte.

Komischerweise ist die häufigste Klage derer, die sich nach meinen Vorträgen melden, weil sie nicht mit mir überein­stimmen, ich sei auf unrealistische Weise optimistisch. Dies erinnert mich immer wieder an eine Geschichte, die mir der Komiker/Schriftsteller/Verleger Paul Krassner erzählte: Anlässlich einer Ver­sammlung der Neuen Linken rappelt sich ein verkrüppeltes Polio-Opfer an seinen Krücken hoch und sagt: „Die menschliche Situation ist nicht hoff­nungslos. Mit etwas Glauben können wir immer noch eine bessere Welt schaf­fen.“ Da schreit ein Schwarzer aus dem Hintergrund: „Du hast gut reden, du bist weiß!“

Trotz des labyrinthenen Agnostizis­mus meines Charakters, gibt es einen Strom von Hoffnung und Glauben in mir – einen irrationalen oder (vielleicht) trans-rationalen Optimismus. Einerseits bin ich gezwungen, mit einem Satz irgendwo bei Tolstoi übereinzustimmen, wo er sagt: „Iwans Leben war sehr gewöhnlich, das heißt sehr schrecklich.“ Dies ist die typische menschliche Situation gewesen, seit wir bewusst genug wurden, uns unserer eigenen Misere auf eine Art gewahr zu werden, wie Tiere sich ihrer eigenen tragischen Lage nie ganz bewusst sind. Trotzdem habe ich genügend Beweise dafür, dass es in jedem von uns eine selbst-heilende Fähigkeit gibt, die sogar die schlimmsten Tragödien überwinden kann. Ich glaube, diese transzendentale Fähigkeit besteht auch in der Spezies als Ganzes, auch wenn sie sich bislang nur sehr zaghaft und verzerrt äußerte. Ich glaube nicht, dass der mystische Zustand – jenseits von Raum, Zeit, Gefühl, Schmerz – nur ein weiterer Bewusstseinszustand ist, den es mit Hilfe von Yoga, Drogen oder anderen Tricks zu erreichen gilt. Vielmehr glaube ich, es sei der nächste Schritt der Evolution, dem wir alle entgegenwachsen; und ich meine, dass unsere kollektive Ankunft dort als Spezies so vorausbestimmt ist wie irgendein Gesetz der Physik oder Astronomie.

Um Lenin aus dem Zusammenhang zu zitieren (und dabei seinen Sinn zu ver­drehen): Es ist die Maschine, die die Ingenieure lenkt. Wir reiten auf einer sozio-biologischen Welle der beschleu­nigten Evolution, die zu immens ist, als dass sie sich von unseren individuellen und kollektiven Dummheiten ablenken ließe. Die ganze Weisheit der Vergan­genheit – wie auch alle Grausamkeiten und Idiotien – trifft sich in einem Spezies­-Vektor; und ich meine, dass die Weisheit innerhalb dieses gesamthaften Zustands-­Vektors grösser als die Torheit ist. Hier einige Gedankengänge, die ich an ande­ren Orten bereits zitiert habe:

  1. Die Verdoppelung des menschlichen Wissens hat laut Nationalökonom Georges Anderla im Laufe der Ge­schichte immer schneller stattgefun­den. Von der Zeit Christi bis 1500 hat sich das Wissen verdoppelt, 1960 war es dann schon wieder so weit, dann 1973. Inzwischen hat es sich sicher noch zweimal verdoppelt.
  2. Der Niederschlag dieser Beschleuni­gung verändert unsere Welt sogar noch schneller. Laut J. R. Platt der Staatlichen Universität Michigan hat die Reisegeschwindigkeit seit 1900 um ein Hundertfaches zugenommen, be­kannte Energievorkommen um ein Tausendfaches, Datenverarbeitung um ein Millionenfaches und die Kom­munikationsgeschwindigkeit um ein Zehnmillionenfaches.

Der allgemeine Wohlstand nimmt trotz verbleibender Elends- und Armutsge­bieten immer noch zu. Gemessen am Lebensstandard der oberen zehn Pro­zent der Vereinigten Staaten im Jahre 1900 als Maß wirtschaftlichen Erfolgs errechnete Buckminster Fuller, dass vier­zig Prozent der Menschheit diese Ebene 1920 erreicht hatte, fünfzig Prozent 1950 und sechzig Prozent 1970.

Während das Unheil des nuklearen Holocausts immer noch über uns hängt, gibt es andere Voraussichten, die viel er­freulicher sind. An der Langlebigkeits­/Unsterblichkeits-Front, die ich bereits erwähnte, haben verschiedene informier­te Wissenschaftler (z.B. Alvin Finkel­stein und F. M. Esfandiary) vorausgesagt, dass der endgültige Durchbruch – Medi­kamente, die dem Altersprozess Einhalt gebieten, bzw. ihn rückgängig machen­ bis 1990 stattfinden wird. Bucky Fuller behauptet, die Armut könne überall rückgängig gemacht werden, wenn man seinen Weltenergie-Raster anwendet. Medikamente, die die menschliche In­telligenz bleibend steigern, sind für das Jahr 2000 angesagt, nicht nur von Radi­kalen wie Tim Leary, sondern von Kon­servativen wie Dr. Nathan Kline. Die Industrialisierung des Weltraums wird völlig neue Gebiete erschließen, und neue Grenzen haben immer zu enormer Kreativität und Innovation angespornt.

Wenn ich in diesem Augenblick die schreckliche Bedrohung und die wunder­baren Möglichkeiten der nächsten Jahre betrachte, scheint mir der einzige Grund für Verzweiflung statt Hoffnung eine starre Bindung an das fundamentale materialistische Dogma zu sein, dass das Universum einzig und allein das Resul­tat blinden Zufalls ist. Daran glaube ich nicht. Ohne jedes Dogma betreffend Gott sehe und fühle ich eine Intelli­genz im Kosmos, in jedem Grashalm, in jedem Atom. Ich glaube überhaupt nicht daran, dass die Existenz eine blinde Ma­schine ist. Die Beschleunigung des Wis­sens, der Ordnung und des Zusammen­hangs sind für mich genauso eingebaut wie der Kirschbaum im Kirschkern ent­halten ist. Die Visionen des alten Testa­ments, von Utopisten und Mystikern aller Epochen, von Jefferson und Blake und Nietzsche und Beethoven sind kein Wunschdenken, sondern genetische Si­gnale unseres auftauchenden Potentials für immer höhere Zustände von Intelli­genz, Bewusstsein und Liebe.

Meine Frau Arlen und ich sind vor nicht allzulanger Zeit nach Irland gezo­gen. Wir ließen drei erwachsene Kinder und um die Hundert gute und nahe Freunde der wissenschaftlichen und künstlerischen Gemeinschaften der San Francisco Bay Area zurück. Wir brauch­ten einen neuen Wirklichkeitstunnel, um uns von unserem Kummer zu erholen, um ruhiger zu werden und wieder Boden unter den Füssen zu gewinnen. Die Großzügigkeit, die Gastfreundschaft und der Humor der Menschen hier hat uns sehr gut getan. Die niedrige Ver­brechensrate im Vergleich zu den Ver­einigten Staaten und die Tatsache, dass die Polizei hier nicht einmal Waffen trägt, ist uns Tonikum und Beruhigungsmittel zugleich.

Ich bin jetzt einundfünfzig und hoffe noch viele weitere Wirklichkeitstunnel zu erforschen. Vielleicht ziehen wir für eine Weile nach Spanien, später vielleicht auf eine der griechischen Inseln. Wenn die Langlebigkeits-Revolution früh ge­nug durchschlägt, hoffe ich sogar eines Tages zu einer von Gerard O’Neils Raumstädten zu migrieren. Ich habe vieles durchgemacht, seit ich als kleiner Junge mit den anderen Kindern der Arbeitslosen in der Gratis-Lunch-Ab­teilung sitzen musste und mir Sorgen darüber machte, ob Gott mich eines nachts blind machen würde. Ich hoffe weiterzumachen und noch vieles zu ler­nen. Auch die Menschheit hat einen langen Weg hinter sich, von affenartigen Wesen, die in Höhlen froren und zitter­ten vor dem Ding, das im Himmel don­nerte; ich glaube, wir alle werden noch vieles sehen und lernen.


Auf meine eigene Art
von Robert Anton Wilson ist im Sphinx-Magazin, Ausgabe Nr. 22, im Herbst 1983 erschienen.

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