Zu neuen Grenzen der Menschheit
Ein Interview mit Robert Anton Wilson von Dean Gengle
Bob Wilson gehört bestimmt zu den glücklichsten Menschen, denen ich je begegnet bin – literarisch oder leibhaftig. Er strahlt eine Fröhlichkeit aus, die an Albernheit und Einfalt grenzt. In der Sprache des Tarot ist er ein Narr. Narrheit ist die beste Lehrmeisterin. Wilson verschlug es auf seiner Laufbahn von den pseudo-eleganten Playboy-Redaktionsbüros zu Monaten unter dem Regime öffentlicher Wohlfahrtsinstitutionen in Oakland. Heute lebt er in Berkeley mit einer Großfamilie, lies Kommune. Bis zu seinem neuesten Angebot war er an der Entstehung von sechs Büchern als deren Verfasser oder Mitarbeiter beteiligt. Zur Zeit schreibt er noch ein weiteres Science Fiction-Werk und ist dabei, ihm den letzten Schliff zu geben. Ich kann mir kaum vorstellen, wie er die schreiende, verschnörkelte, holistische und oft auch aufreizend kosmische Komik von Cosmic Trigger noch übertreffen könnte.
Illuminaten? Letztes Geheimnis? Drehen wir doch das Rad der Zeit etwas zurück, einverstanden? llluminatus! heißt die Trilogie, die Wilson gemeinsam mit Robert Shea verfasst hat. Playboy nannte sie „eine Kreuzung zwischen einem literarichen Acid-Trip und einer politischen Tour de Farce“. Aber das wollen wir nicht gelten lassen, weil ja Wilson zum Playboy Beziehungen hatte. The Village Voice drückte sich anders aus: „Ausgehend von heutigen Inkarnationen der Geheimorden der Illuminaten … finden Sie in diesem Roman alles zusammengewürfelt, was Ihnen je in Zusammenhang mit folgenden Themen einen Schrecken eingejagt haben könnte: Watergate, die Mafia, UFOs, die neuesten politischen Morde, Atlantis, das Nazi-Deutschland, die gigantischen Rock-Festivals, die CIA, die Pyramidenenergie, John Dillinger, LSD, Yoga, das FBI und die letzten Worte von Dutch Schultz – um nur die ersten Renner zu nennen - und alles in einem frisch-fröhlich unfrisierten Stil. llluminatus! ist das Buch der Verschwörungen und wird wahrscheinlich die größte Sci-Fi-Kult-Novelle seit Dune werden.“
Seit diese Sätze geschrieben wurden hat Illuminatus! wie erwartet die Enthusiasten an den Universitäten erreicht und lässt Anzeichen dafür erkennen, dass er aus der Menge der Anhänger von Sci-Fi und spekulativer Phantasie aus- und in die Gefilde astraler Moneten einbrechen wird. Die Briten haben ihn entdeckt, dass es nur so seine königliche Art hat, und llluminatus! wurde zu einem zehnstündigen Science Fiction-WagnerRock-Epos umgestaltet und am englischen National Theatre unter dem Patronat ihrer Majestät der Königin Elisabeth II. aufgeführt. Wilson erschien bei dieser Aufführung kurz in einer profilierten Rolle. Nicht schlecht für einen ehemals Armengenössigen, was?
Sie werden fragen: Was ist das Geheimnis seines Erfolges, geschweige denn das letzte Geheimnis der Illuminaten? Es könnte reine Magie sein, denn Wilson trägt den Titel von Eingeweihten mehrerer okkulter Orden, wie etwa Hexer vom Weissen Band, Voo-Doo-Priester, Wasser-Bruder und Hohepriester des Geheiligten-Cyborg-Kults, dies seine zuletzt erlangte und äußerst hoch geschätzte Auszeichnung, für die er gar nichts getan hatte.
Sein bevorzugter noch lebender Autor ist, wie er meint, William S. Burroughs. Sein bevorzugter nicht mehr lebender Autor meiner Ansicht nach Aleister Crowley. Wie Crowley ist er ein Meister darin, beim Schreiben dick aufzutragen. Wie Burroughs weiß er, wo Hunde begraben liegen. Wie Vonnegut schmuggelt er den Leser aus der Zeit hinaus, aber anders als wohl jeder andere heutige Schriftsteller jeglicher Gattung hat Wilson einen prophetischen Blick, obwohl er behauptet, ein Agnostiker zu sein. Ein gesteinigter Agnostiker übrigens. Aber trotz einiger unglaublicher persönlicher Unglücksfälle und Prüfungen ist Wilson wieder aufgetaucht, mit einer Stimme, die klarer denn je die im tiefsten Grunde optimistische Zukunft des Planeten verkündet. Bei unserem Treffen in seinem Kommune-Refugium in den Hügeln von Berkeley begann unser auf Tonband aufgenommenes Gespräch in diesem Tenor.
Ich habe bemerkt, dass ich, wenn ich äußerst glücklich und high bin, von anderen einen merkwürdigen Input bekomme, so als wollten sie diese Glücklichkeif mit allerlei Gründen, weshalb ich eigentlich nicht glücklich sein sollte, durchbrechen. Das ist ein interessantes Phänomen.
Robert Anton Wilson: Ich stimme Don Juan zu. Beinahe jeder ist ein Schwarzmagier. Die ganze Lebenskunst besteht bloß darin, sich von ihnen nicht unterkriegen zu lassen. Wenn Sie sich’s mal richtig überlegen, werden Sie feststellen, dass jeder, oder fast jeder, auf die eine oder andere Art äußerst wachsam darauf aus ist, Anzeichen für Zufriedenheit zu entdecken; und wenn er sie entdeckt hat, stürzt er sich drauflos, auf die verschiedensten Arten: Mit Wahnvorstellungen, Depressionen oder etwas, das Ihr Fehler ist, und das, wenn Sie sich erst mal drum kümmern, Sie in sein Elend hinunterzieht.
Könnte man sagen, dass Sie im Cosmic Trigger ein neues Modell des Universums entworfen haben?
Robert Anton Wilson: Ich biete nicht ein neues Modell an; ich biete gleichzeitig mehrere neue Modelle an. Ich betrachte meine Schriften als Guerilla-Ontologie. In Illuminatus! biete ich dem Leser mehrere Modelle einer Verschwörung an, die die Welt regiert; wenn Sie glauben, dass es eine solche Verschwörung gibt, und lasse die Leser ihre eigene Wahnvorstellung aussuchen. In Illuminatus! finden Sie jede mögliche Variante und Permutation. Sie können sich die herauspflücken, die Ihnen am meisten zusagt. Wenn Sie in der Geschichte eines Verlierers leben wollen, in einer Welt, die von „jemand anderem“ regiert wird, mit Ihnen als einem der Opfer, wird Ihnen dieses Buch jedes wünschbare Modell liefern können. Sie können darin aus etwa zwanzig verschiedene auswählen. Im Cosmic Trigger gebe ich etwa acht Hauptmodelle davon, worum es im Universum eigentlich geht, Sie können sich aussuchen, welches auch immer Sie mögen.
Aber diese Modelle scheinen sich doch auf eine gegenseitig voneinander abhängige Art ineinanderzufügen, sie haben alle etwas Gemeinsames.
Robert Anton Wilson: Ich weiß nicht. Einige sind eher wissenschaftlich, und einige von ihnen sind eher okkult. Was sollen sie gemeinsam haben?
Nun, was ich meine ist das: a) Alle Modelle haben ihren Ursprung im und durch das Nervensystem des Menschen, und b) Sie werden so real, dass sie weitergegeben, mitgeteilt und auf gewisse Weise gemeinsam mit anderen erlebt werden können. Wahnhafte Kommunikationen werden z.B. eine wahnhafte Realität hervorrufen. Die Modelle, die man auswählt, um danach zu leben, sind etwas zufällig, aber dass einige Modelle besser funktionieren als andere, kann man dadurch entdecken, dass man sogenannte empirische Methoden anwendet.
Robert Anton Wilson: Ich betrachte die sogenannte Realität als die Resultante aus all den Auseinandersetzungen sämtlicher Banden organisierter oder nicht-organisierter Magier, die auf diesem Planeten ihr Wesen treiben. „Resultante“ im physikalischen Sinn. In der Physik können Sie die Kräfte analysieren, indem Sie zwei beliebige Kraftvektoren auswählen und mit Hilfe der Parallelogramm-Methode die Resultante bestimmen. Damit fahren Sie fort, bis zuletzt noch eine Resultante aller Kräfte übrigbleibt. Das gehört zu den Anfangsgründen der Physik.
Wird als Ergebnis aus diesen widerstreitenden Kräften unser Planet selbst zu einem funktionierenden Organismus werden?
Robert Anton Wilson: Ich meine, die Erde war immer schon ein Organismus. Ich denke, es wird uns nur erst jetzt bewusster. Die intellektuelle westliche Tradition hat bekanntlich ihre Ursprünge aus den Augen verloren. Ein Blick in ihre Bücher zeigt aber, dass – entgegen der allgemein verbreiteten Ansicht – die wissenschaftliche Revolution weitgehend das Werk hermetischer Philosophen war, die sich gegen Aristoteles auflehnten und eine sehr organismische Philosophie vertraten, die stark beeinflusst war von Kabbala, Gnostik, Alchemie und dem, was man als die westliche Taoistische Tradition bezeichnen könnte, der hermetischen Tradition im Untergrund. Zu der Zeit jedoch, als die wissenschaftliche Revolution abgeschlossen war, waren diese Hintergründe im ganzen Getriebe völlig untergegangen, und uns bleibt dieses tote, mechanistische Universum, auf dem wir dreihundert Jahre lang sitzen geblieben sind. Dreihundert Jahre lang hat die Intelligentia des Westens an diesem toten Universum geklebt. Sie fangen eben erst an zu entdecken, dass es ganz und gar keine Maschine ist, sondern lebendige Gegenwart.
Ein Gedanke, vielleicht?
Robert Anton Wilson: Eddington hat gesagt, das Universum gleiche eher einem großen Gedanken, als einer großen Maschine. Aber die neueste Physik scheint tatsächlich darauf hinzuweisen, dass es eher einem großen LSD-Trip gleicht, als einem großen Gedanken.
Was für mich zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte so überaus faszinierend ist: Wie viele verschiedene Richtungen jetzt zu konvergieren scheinen, wieviel Informationen, die anscheinend für lange Zeit verloren waren, wiederentdeckt und in eine neue Verbindung gebracht werden mit dem, was wir aus dem toten, mechanistischen Forschungsansatz gelernt zu haben meinen. Der Kreis beginnt sich zu schließen.
Robert Anton Wilson: Nichts von dem, was Mystiker je behauptet haben, gilt heute als wissenschaftlich unmöglich. Sagen wir um 1900, ja sogar noch um 1950 herum befand man sich auf recht sicherem wissenschaftlichen Boden, wenn man behauptete, dass irgendeine bestimmte Ansicht der Mystiker absurd sei. In einigen Fällen hätte man sagen können: Das ist unmöglich. Aber aus der Sicht der Wissenschaft von 1978 wird jede verrückte Idee, die Sie vorbringen wollen, irgendwo als eine Möglichkeit ihren Platz finden. Die Anzahl der höheren Intelligenzen z.B., die in unserem Milchstraßensystem existieren könnten, oder die höheren Intelligenzen, die in anderen Dimensionen existieren könnten, sind wissenschaftlich durchaus fassbare Größen, und über sie nachzusinnen ist ebenso verblüffend, wie die Betrachtung der Engel und Erzengel der jüdisch-magischen Überlieferung. Und genau das ist’s worum es in Kubricks Film 2001 geht. 2001 ist ein echter Grenzfilm, indem er zeigt, wo sich das Wissenschaftliche und das Mystische überschneiden, indem er die Möglichkeit aufzeigt, dass wir von höheren Intelligenzen in einer Art und Weise programmiert wurden, die wir noch nicht einmal dunkel zu verstehen anfangen, eine Möglichkeit, die heute jedoch wissenschaftlich durchaus denkbar wäre. Und sie ist mindestens so unheimlich wie alles, was uns Kabbalisten oder Hermetiker je anzubieten hatten. Dazu kommt, dass so vieles in der modernen Wissenschaft das grundätzliche Eins-sein des Bewusstseins bestätigt. Die humanistischen Psychologen nehmen in ihre Systeme mehr und mehr östliche Weisheiten aus Zen und Yoga usw. auf. Die Quantenphysik birgt eine Fülle von Ideen, die absolut wie eine neue Kosmologie oder sogar eine Sufi-Kosmologie klingen.
Wenn wir gerade von der Physik sprechen: Könnte man eine Analogie herstellen und sagen, dass die Physiker, wenn sie in ihren Laboratorien arbeiten, bei ihren Versuchen auch Aspekte des „Rituals“ und etwas vom Werk der Alchemisten erkennen lassen?
Robert Anton Wilson: Ich denke, das wird in Zukunft vermehrt der Fall sein. Bereits hat Brian Josephson allen Ernstes die Ansicht geäußert, dass der Unterschied in den Ergebnissen der Versuche von amerikanischen und europäischen Physikern nicht auf mangelhafte Instrumente oder Voreingenommenheit der Experimentatoren im üblichen Sinne zurückzuführen sei, sondern auf Psychokinese. Josephson erhielt 1973 den Nobelpreis für Physik. Amerikaner und Europäer erhielten abweichende Ergebnisse, weil ihre Hirne das Quantenniveau beeinflussten und das Ergebnis mitbestimmten, das sie erhielten. Diese Idee wurde von Dr. Evan Harris Walker gedruckt und veröffentlicht. Meiner Ansicht nach muss die Wissenschaft zu der Vorstellung der Alchemie zurückkehren, dass der Charakter des Wissenschaftlers die Ergebnisse bestimmt, und dass die höchste Wissenschaft den höchstentwickelten Charakter erfordert. Dies wird eine völlige Umorientierung der wissenschaftlichen Ausbildung bedeuten. Wissenschaftliche Ausbildung wird in gewissem Sinne auch eine mystische Ausbildung sein müssen. Einige Wissenschaftler werden sich von dieser Idee völlig vor den Kopf gestoßen vorkommen, aber ich glaube wirklich, dass es auf das hinauslaufen wird.
Atomwissenschaftler haben eine sozusagen internationale Kabale gebildet, mit ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Zeitschriften, und arbeiten auf einer Ebene, die weit über politischen und nationalen Kategorien liegt. Sind Sie der Ansicht, dass einer von ihnen auch schon diesen Zusammenhang zwischen der hohen Magie, die sie gerade beschrieben haben und dieser internationalen Arbeit gesehen hat?
Robert Anton Wilson: Ich glaube, eine wachsende Anzahl von Wissenschaftlern fängt an, es zu realisieren. Noch sind sie natürlich in der Minderheit, aber ich meine, der erste, der angefangen hat, das zu verstehen, war Wilhelm Reich, dem klarzuwerden begann, um es in seiner eigenen Ausdrucksweise zu sagen, dass man zuerst einen Schutzwall aus Charakterstarrheiten und Muskelspannungen loswerden muss, ehe man gewisse Aspekte der Natur unverzerrt beobachten kann. Man muss unter anderem die sexuelle Verklemmung loswerden.
Da besteht die Verbindung zur Sexualität und über diese habe ich auch angefangen, mich für all dies zu interessieren, auch für Ihr Werk, wie ich hinzufügen möchte.
Robert Anton Wilson: Nun, Reich war also der erste, der diesen Zusammenhang erkannte, und man sah ihn deshalb als Spinner an, warf ihn ins Gefängnis, verbrannte seine Bücher und ähnliches mehr. Aber in den siebziger Jahren sehe ich mehr Wissenschaftler, die dieses Aspekts gewahr werden. Wie schon die Alchemisten wussten, muss man sich zuerst selbst befreien, ehe man bestimmte Aspekte der Natur überhaupt sehen kann. Wenn Sie gegen diese Aspekte gewappnet sind, können sie mit der Nase darauf stoßen, und Sie merken nichts davon.
Ich versuche, die Sexualität in Verbindung mit verschiedenen Ritualformen theoretisch und praktisch zu verstehen. Könnten Sie sich etwas ausführlicher über das Ritual äußern?
Robert Anton Wilson: Als ich mit der Bewusstseinsarbeit, oder wie immer Sie das nennen wollen, zuerst anfing, hatte ich gar nichts mit dem Ritual zu tun. Ich war ziemlich intensiv mit Zen-Meditation beschäftigt und betrachtete das Ritual mit ziemlicher Geringschätzung. Dann machte ich eine völlige Umkrempelung durch und ich beschloss, dass Meditation für mich nicht das Richtige war, stattdessen erzielte ich fürchterlich gute Ergebnisse mit dem Ritual, nachdem ich einmal begonnen hatte, damit zu arbeiten, und eine Zeitlang verkündigte ich jedermann: Scheiss auf die Meditation, das ist bloße Zeitverschwendung. Beim Ritual, da geschieht was. Und schließlich dämmerte es mir, dass das einfach ich war. Ich bin ein Romanschriftsteller. Ich glaube, Romanschriftsteller neigen besonders dazu, mit dem Ritual gute Ergebnisse zu bekommen, weil jeder Romanschriftsteller bis zu einem gewissen Grad ein frustrierter Schauspieler, ein Dramatiker, ein Dramatiker/Schauspieler/Regisseur ist. Man versucht, im Kopf ein Spiel zu inszenieren, das sich im Kopf der Leser realisieren soll, und so, denke ich, neigen Romanschriftsteller dazu, gute Magier zu sein, während andere Menschentypen Meditation viel besser finden.
Ich bin zwar nicht sicher, aber ich glaube, die beiden Methoden dienen doch recht verschiedenen, wenn auch verwandten Zwecken. Man kann nicht jedermann einen einzigen Weg empfehlen.
Robert Anton Wilson: Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Als Buddha starb, fragte ihn jemand: Was sollen wir tun? Er antwortete: Zweifle und finde deinen eigenen Weg.
Wenn die Neurophysiologie auf irgendeiner Grundlage beruht, so dürfte es gewisse breite, sich überschneidende Kanäle geben, die man in sich selbst entdecken kann, unabhängig davon, welchen speziellen Weg wir in der Zeit-Raum/Übereinstimmungs-Realität auch einschlagen mögen.
Robert Anton Wilson: Das Ritual besteht, wie Aleister Crowley einmal während einer seiner atheistischen Phasen schrieb, aus einer Reihe von physiologischen Experimenten. Darum handelt’s sich letztlich. Sie experimentieren mit Ihrem eigenen Nervensystem.
Da bin ich jetzt mitten drin. Ich verwende Filme und andere technische Medien.
Robert Anton Wilson: Ich meine, dass man, wenn man sich den höheren Schaltkreisen des Nervensystems zuwendet, sich des Ausmaßes gewahr wird, in dem man sich seine eigene Wirklichkeit schafft, und dann wird man mit dem konfrontiert, was die „dunkle Nacht der Seele“ genannt wird – „Die Kapelle der Gefahren“ (Chapel Perilous).
Ist das mit dem Überschreiten des Abgrunds verwandt?
Robert Anton Wilson: Ja. Sie können völlig ausflippen oder ein Solipsist werden, oder sie können sich in allerlei schädliche oder nichtfunktionelle Zustände begeben. Wie Don Juan in einem der Bücher zu Carlos sagt: Einige Leute, die diesen Zustand erreichen, gehen einfach hinaus in die Wüste und verhungern, weil es einfach keinen Sinn zu haben scheint, irgendetwas zu tun.
Wie lässt sich das vermeiden?
Robert Anton Wilson: Sie können das vermeiden, indem Sie sich etwas aussuchen, das Ihnen sinnvoll erscheint, und sich daran klammern. Ich tat dies sozusagen mehr oder weniger intuitiv. Timothy Leary hat es sehr gut ausgedrückt. Was Sie an diesem Punkt tun, sagt er, ist, dass Sie einfach das Höchste, Heiligste, Schönste, Wahrste, Feinste, Größte, was sie sich vorstellen können, nehmen und sich darauf ausrichten. Mit anderen Worten, Sie erschaffen sich einen Gott und streben zu ihm hin, und das ist das einzige, was Sie vor dem Solipsismus oder der Schizophrenie auf dem Weg zum höheren Bewusstsein retten wird. Wenn Sie nicht eine Art Ziel finden, an das Sie glauben können, dann können Sie sich leicht selbst leerbrennen und haben nichts, wo Sie hingehen könnten, und keinen Grund, dorthin zu gehen.
Das ist der Hauptpunkt meiner Kritik an den vorfabrizierten und -verpackten Bewusstseinstrips, wie z.B. ASW-Training. Die Leute werden bis zur Schwelle der „Kapelle der Gefahren“ mitgenommen, und dann dort sich selbst überlassen. Das führt sie dann dazu, sich an die Organisation zu klammern, die sie bis dorthin gebracht hat.
Robert Anton Wilson: Das stimmt für eine riesengroße Zahl von Führertypen. Das Höchste, was ihnen einfällt, auf das sie ihre Jünger ausrichten können, sind sie selbst. So entstehen alle diese Kulte von Leuten, die herumziehen und sagen: Mein Guru ist besser als dein Guru usw. Heute mag ich Werner sehr, denn er hat etwas Höheres gefunden als sich selbst.
Sie meinen das Ding mit dem Welthunger?
Robert Anton Wilson: Ja. Für mich ist das im Augenblick eine der wichtigsten Ideen auf diesem Planeten: Die Idee, dass wir Hungersnöte abschaffen können. Wir können machen, dass der Planet funktioniert. Bucky Fuller hat das schon seit langem gesagt, aber dass jetzt ein messianischer Charakter wie Erhard diese Idee aufnimmt, erweckt in mir große Hoffnungen, dass es nun viel rascher weitergehen wird.
Sie zeigen da eine Art Glauben daran. Ich erinnere mich, dass Sie im Cosmic Trigger den Vorgang beschrieben haben, wie Sie mit der Ermordung Ihrer Tochter fertig wurden. Sie haben ihr Gehirn in eine Tiefkühlaufbewahrung gegeben. Woher kommt ihr offensichtlicher Glaube daran, dass die Wissenschaft eines Tages das Geheimnis der Unsterblichkeit entschlüsseln könnte?
Robert Anton Wilson: Ich betrachte es als eine vernünftige Spekulation. Ich sehe es nicht als Glauben an. Die genetische Information meiner Tochter Luna aufzubewahren, kostet mich weniger, als meine Rauchgewohnheiten, und ich denke es ist eine vernünftige Spekulation. Wenn die Durchbrüche bei der Erforschung der Langlebigkeit im gleichen Tempo wie bisher weitergehen, hat jedermann, der etwa … nun sagen wir … der heute unter sechzig Jahre alt ist, eine recht gute Chance, die Langlebigkeits-Revolution mitzuerleben und eine ganze neue Lebensspanne zu erhalten, wahrscheinlich eine längere, als wir sie heute haben. Und es besteht eine gute Chance, dass, während diese Leute ihr zweites Erwachsensein erleben, weitere Durchbrüche in der Lebensverlängerung die Lebenserwartung so weit hinaufschrauben werden, dass einige den Durchbruch zur Unsterblichkeit erlangen werden. So könnte es sein, dass einige Menschen, die heute leben, nie mehr sterben müssen, was ein überwältigender Gedanke ist, wenn man es sich richtig überlegt. In diesem Falle glaube ich wirklich, dass eine Möglichkeit besteht, dass ich noch vorhanden sein könnte, wenn Luna wiedererschaffen wird, und diese Langzeitspekulation hat sich dann auf großartige Weise gelohnt. Bubba Free John, ein Guru aus der Gegend, der sich für die Erforschung der Lebensverlängerung interessiert, hat gesagt, dass die höchsten Zustände, in die Mystiker geraten sind, im Vergleich mit den Zuständen, in die wir bei einer Lebensdauer von Tausenden von Jahren gelangen können, als lächerliche Kinderei erscheinen werden. Wenn wir einmal richtig darüber nachzudenken anfangen, wird es ja offensichtlich, dass wir unser Bewusstsein höher entwickeln können, je länger wir Zeit haben, daran zu arbeiten. Das gilt auch für die Intelligenz. Ich war sehr beeindruckt von der Tatsache, dass bei den Forschungen, die man mit den Menschen angestellt hat, die dem Tod sehr nahe oder schon klinisch tot gewesen waren, alle von der Begegnung mit dem hellen Lichtwesen berichtet haben, das die Schamanen schon seit Jahrtausenden beschrieben haben. Neben anderen Wissenschaftlern hat auch John Lilly dieses Wesen beschrieben. Unter anderem wird ihnen durch dieses Lichtwesen der innige Wunsch nach mehr Erkenntnis vermittelt. Die meisten von ihnen haben das Gefühl, ihr größter Fehler im Leben sei es gewesen, zu wenig gelernt zu haben. Sehr gerne möchten sie mehr lernen. Die orthodoxe östliche Einstellung legt besonderen Wert auf die Bewusstseinserweiterung, während dem Leary und ich viel mehr an einer Erweiterung der Intelligenz interessiert sind. Damit meine ich eine Erweiterung des Bewusstseins, so weit es nur möglich ist, und eine Erweiterung einer sehr scharfen Erkenntnis, so weit sie nur immer dem Bewusstsein zu folgen vermag. Höhere Intelligenz ist sehr viel umfassender, als höheres Bewusstsein.
Sie haben im Trigger davor gewarnt, dass es zahlreiche neurologische Experimente gibt, die besser nicht durchgeführt werden sollten, weil es einem möglicherweise den Mind sprengen könnte. Warum nehmen Sie diese Haltung ein, wenn Sie gleichzeitig für Offenheit plädieren und ganz allgemein für eine Politik eintreten?
Robert Anton Wilson: Ich habe eine ganze Menge Neurotiker erlebt, die sich mit dem Okkulten eingelassen haben und sehr rasch psychotisch wurden. Ich halte es für ein großartiges System, um aus Neurotikern Psychotiker zu machen. Ich glaube nicht, dass sich Neurotiker überhaupt mit okkulten Dingen abgeben sollten. Ich meine, man sollte zuerst einmal auf der Ebene der Auseinandersetzung mit der objektiven Realität, mit der sozial/sympathetischen Realität und der zwischenmenschlichen Realität klar kommen, ehe man sich an die Erforschung außer-gewöhnlicher oder anderer Wirklichkeiten wagt. Die Techniken, auf die ich mich in dem von Ihnen erwähnten Abschnitt bezog, sind Techniken, die dazu dienen, nicht-menschliche Intelligenzen zu schaffen und/oder zu kontaktieren – und es ist für Berufsokkultisten eine sehr heikle Frage, ob sie Geschöpfe unserer eigenen Vorstellungskraft sind, oder wir nur mit ihnen Kontakt aufnehmen. Sie werden feststellen, dass Alexandra David-Neel in ihren Büchern über Tibet darauf hinweist, dass die Lamas ihr erklärt haben, dass diese Intelligenzen zwar unsere Geschöpfe sind, aber sehr wohl eine eigene Wirklichkeit annehmen und von uns unabhängig werden können. Israel Regardie, der ja Crowleys Sekretär war und das Crowleysche System wirklich als Insider kennt, sagt, man kann sie entweder als Objekte oder als eigene Schöpfungen ansehen, und beides funktioniert gleich gut. Tatsache ist, dass, wenn man nur im geringsten anfällig ist für Angstzustände oder Verfolgungswahn, einen Experimente dieser Art sehr leicht in einen Horrorfilm führen können. Ich habe das bei Leuten erlebt, die nicht darauf vorbereitet waren, und ich habe gesehen, wie man sie in diesem Zustand ins Irrenhaus gebracht hat. Ich finde, das sollte man jedem ganz klar sagen, der irgendwelche Übungen machen will, um mit höheren Intelligenzen in Verbindung zu treten. Wenn man über solche Themen schreibt, was ich ja im Cosmic Trigger getan habe, dann taucht ein Problem auf, das ich als Puharich-Effekt bezeichne. Der arme gute Puharich hat in seinem Buch Uri den taktischen Fehler begangen, zuviel von der Wahrheit zu erzählen, und jezt gilt er als verschroben oder leergebrannt. Man muss nur einen Blick auf die Liste der wissenschaftlichen Referenzen dieses Mannes werfen, um zu wissen, dass er kein Idiot ist. Ich habe mich entschieden, nicht in Puharichs Fehler zu verfallen: ich habe einige der eher unglaublichen Dinge weggelassen, die ich im Trigger hätte anführen können. Wir durchlaufen gegenwärtig einen Prozess der schrittweisen Enthüllung. Jedermann, der den Mut hat, ein bisschen preiszugeben, gibt anderen den Mut, auch ein bisschen preiszugeben. Seit der Veröffentlichung von Castanedas Buch habe ich einige Anthropologen gehört, die bereit sind, in aller Öffentlichkeit zuzugeben, dass sie gesehen haben, dass primitive, oder sogenannte primitive Magie funktioniert. Vor Castaneda hatten sie nicht den Mut, das zu sagen. Lilly hat anderen den Mut gegeben, von Erfahrungen zu berichten, die sie sonst nicht gewagt hätten, preiszugeben. Ich kenne einen Physiker, der in einem Interview mit einer Untergrundzeitschrift bereitwillig von gewissen extraterrestrischen Erfahrungen erzählte. Er hatte sie zunächst in einem Brief an eine wissenschaftliche Fachzeitschrift geschildert, dann jedoch seine Meinung geändert und die Schilderung weggelassen. Er hat das Gefühl, dass er darüber zur Leserschaft einer Untergrundzeitschrift sprechen kann, aber nicht zu den Lesern einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift. Ich glaube, dass in den nächsten fünf Jahren immer mehr und mehr „paranormale“ Erfahrungen ans Tageslicht treten werden, und mehr Leute aus der Wissenschaft und anderen Gebieten bereit sein werden, darüber zu sprechen. Dann werden Leute wie Lilly, die Pioniere auf diesem Gebiet waren, bereit sein, offener über die Dinge zu reden, über die sie jetzt noch nicht zu reden bereit sind. Es gibt gewisse Dinge, über die wir alle auf diesem Gebiet tätig sind, nicht zu sprechen bereit sind, denn wenn wir es wären, dann würde ein voraussichtlich sehr hoher Prozentsatz unserer Leser sagen: Tja, der ist wohl verrückt geworden.
Wovor haben die Fundamentalisten Angst?
Robert Anton Wilson: Vor sich selbst. Sie haben Angst vor jeder Veränderung. Eine Etymologie führt das Wort Teufel auf das Wort Doppel zurück. Es handelt sich dabei um den Schatten, um den verdrängten Teil des eigenen Selbst. Wovor sie Angst haben ist das, was Freud das Unterbewusstsein genannt hat: Teile ihres Nervensystems, die sie von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen haben. Die einzige ihnen bekannte Art, damit umzugehen, ist die alte Methode der Menschen, sich Sündenböcke auszusuchen und sie im feierlichen Ritual über die Klippen zu jagen. Wie weitverbreitet dieses Phänomen ist, können Sie beim Studium anthropologischer Texte leicht feststellen. Tatsache ist, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die Veränderung in der Menschheitsgeschichte in noch nie dagewesener Weise beschleunigt, und noch ist kein Ende abzusehen: die Beschleunigung selbst beschleunigt sich weiter. Das Tempo der Veränderungen wird ständig größer. Daher erscheint die Welt Leuten mit einer starren geistigen Haltung, Leuten, deren Nervensystem ganz stark von einer vergangenen Wirklichkeit geprägt ist, immer fremder und fremder, und daher auch immer unheilvoller und immer beängstigender. Das erklärt, warum der durchschnittliche Liberale innerhalb einer Zeitspanne von ungefähr zehn Jahren zum Konservativen wird. Sein Nervensystem verändert sich nicht mehr, sehr wohl aber die Welt. Damit beginnt ihm die Welt fremder und beängstigender zu erscheinen und in ihm greift die Ansicht Platz, dass die Konservativen in dieser Sache doch nicht so unrecht haben, dass etwas Unheilvolles im Gange ist. Wir müssen ein bisschen zurückstecken. Wir dürfen nicht zu übermütig werden. Und damit ist er natürlich in zwanzig Jahren ein Reaktionär. Was nun einen Gegenausschlag vom rechten Flügel angeht, so mache ich mir darüber keine Sorgen. Ich habe das schon einmal durchgemacht. In den fünfziger Jahren war es auch so. Dann kamen die Ausbrüche und Durchbrüche der sechziger Jahre. In den siebziger Jahren hat das Pendel, glaube ich, wieder nach der anderen Seite ausgeschlagen, und uns erwartet erneut eine Periode der Umwälzungen. Die wissenschaftlichen Durchbrüche der nächsten zehn Jahre werden unsere Gesellschaft völlig durcheinander bringen. Im übrigen glaube ich, dass wir uns damit abfinden können. Das Drehbuch, an dem ich gerade bin, hat jedem etwas zu bieten: Es ist nicht mehr ein Spiel, bei dem nichts herausschaut. Es ist ein Spiel, bei dem jedermann gewinnen kann. Das bedeutet, dass wir aufhören können, uns gegenseitig zu bekämpfen und anfangen, das Leben zu genießen.
Zu neuen Grenzen der Menschheit
Ein Interview mit Robert Anton Wilson ist im Sphinx-Magazin, Ausgabe Nr. 4 im März 1979, im Original in The Advocate, Ausgabe Nr. 234 vom 8. Februar 1978 erschienen.