Robert Anton Wilson trifft Doris Lessing

In ihren Zwanzigern half sie eine erste kommunistische Partei Rhodesiens gründen. Mit dreißig kam sie nach Eng­land und veröffentlichte die Afrikanische Tragödie, die der Daily Telegraph „ein Erstlingswerk von erstaunlicher Voll­kommenheit“ nannte. Als sie vierzig war, waren ihre Bücher in zehn Sprachen übersetzt worden, und die New York Times bezeichnete sie als „die größte realistische Autorin unserer Zeit“. Mit fünfzig hatte sie das Goldene Notizbuch geschrieben, das sie als eine Art Nachruf auf einen nunmehr abgeschlossenen Abschnitt ihres Lebens verstand und das nun plötzlich zum Rang dessen erhoben wurde, was ein Kritiker „die neue Bibel der Frauenbewegung“ nannte. Doch da hatte sie die Politik bereits aufgegeben und studierte Mystizismus bei Idries Shah, dem bedeutendsten Sufi-Lehrer Englands. Heute, im Alter von etwas über sechzig Jahren, zählt Doris Lessing zu den Klassikern der Gegen­wart, ist mit dem Somerset Maugham­ Preis für die beste Kurzgeschichte, dem Europäischen Literaturpreis Oesterreich und dem deutschen Shakespeare-Preis ausgezeichnet worden und arbeitet an einer Romanserie mit dem Gesamttitel Canopus im Argos: Archive, die bereits zum populärsten Science-Fiction-Epos seit Frank Herberts Wüstenplanet avan­ciert und in literarischen Kreisen derart in den Himmel gehoben worden ist, dass man sich fragen muss, ob wir sie nicht bald wieder (?) als Anwärterin für den Literatur-Nobelpreis sehen werden.

Doris Lessing ist immer schon kom­promisslos, originell und überraschend gewesen. Während man sie als große Realistin pries, schrieb sie bereits Bücher voll von Elementen aus Science Fiction und Fantasy; auch gilt sie als strenge Kritikerin der feministischen Rhetorik. Sie hat an Protestmärschen des Committee for Nuclear Disarmament teilgenommen und es gleichzeitig als „verschroben“ abgetan, und obschon sie sich seit über zwanzig Jahren mit Mysti­zismus befasst, bezeichnet sie alle Reli­gionen „ohne Ausnahme“ als „geistige Gefängnisse“. Bezeichnenderweise be­ginnt ihr längstes und ehrgeizigstes Werk vor dem Raum-Epos Canopus, die fünf­bändige Serie Kinder der Gewalt, in dem von Rassenunruhen erschütterten Afrika der dreißiger Jahre und führt deren Heldin durch den zweiten Weltkrieg, die marxistische Politik der fünfziger und die Friedensmärsche der sechziger Jahre, um dann abrupt in eine Zukunft nach dem dritten Weltkrieg hinüberzu­wechseln, in welcher alle in den vier ersten Bänden analysierten Trends ihren logischen, apokalyptischen Schluss fin­den. Joyce Carol Oates beschreibt diese mutierte, realistisch-fantastische Serie als „kraftvoll, prophetisch, geheimnis­voll … eine andere Dimension“; die New York Times fand sie „überwältigend“. Gäbe es ein Katalogisierungssystem für Literatur, würden sich die Bibliothekare die Haare ausraufen beim Versuch, Doris Lessing in eine bestimmte Kate­gorie einzuordnen.

1919 in Persien, dem heutigen Iran, geboren, verbrachte Frau Lessing fünf Jahre in dieser islamischen, von Männern dominierten Gesellschaft, und sie sagt, dass sie sich noch an vieles aus dieser Zeit zurückerinnern kann. (In Die siriani­schen Versuche will Lessings Erzähler, ein Außerirdischer von Sirius, die islamische Kultur erklären und fordert den Leser auf, die Enzyklopädie unter „Pervertierte Psychologie“ aufzuschla­gen.)

Danach lebt Doris Lessing fünfund­zwanzig Jahre in Rhodesien, wo sie Zeugin der systematischen Unterdrüc­kung der schwarzen Mehrheit durch die englischen und holländischen Kolo­nialisten ist, eine Erfahrung, die sie in ihre marxistische Phase katapultiert und die ihren endgültigen künstlerischen Nie­derschlag im „Prozess gegen die weiße Rasse“ am Ende von Shikasta, dem ersten Roman der Canopus-Serie findet. Ein weiterer Vorgeschmack ihrer späte­ren Werke liefert ihr Vater, ein englischer Farmer, der Nacht für Nacht auf der afrikanischen Veranda saß und die Sterne beobachtete. „Na ja“, pflegte er zu sagen, „wenn wir uns selbst in die Luft jagen: da, wo wir herkom­men, gibt’s noch mehr als genug.“

Lessing wuchs als sportliches und akti­ves Bauernmädchen auf, und da sie sowohl Persien wie auch Afrika im Blut hatte, war sie vorprogrammiert, das intellektuelle Leben Europas aus einer ziemlich fremden Perspektive zu sehen. Sogar ihre ersten soziologischen Ro­mane, die die Begegnungen von Men­schen verschiedener Rassen zum Inhalt haben, werden lyrisch, wenn sie Land, Tiere, Vegetation oder Meere und Sterne beschreibt, und wenn ihre „wilde Wut“ oft der Swifts gleicht, wird diese immer wieder aufgewogen durch eine Zärt­lichkeit und ein Mitgefühl, die beweisen, dass ihr Sarkasmus nicht auf Verachtung darauf beruht, was den Menschen aus­macht, sondern auch Hoffnung enthält für das, was wir sein könnten. „Ich hatte sogar zu meinen politischen Zeiten einen Hang zum Mystizismus (nicht zur Religion)“, schreibt sie später. Als Das Goldene Notizbuch als eine Art Neues Testament für den Wandel der sechziger Jahre vom Marxismus der alten Garde zum radikalen Feminismus begrüßt wurde, sah Lessing dies als Absage an das, was sie „das heutige Angebot“ nennt: „Materialismus, Sozialismus und der Gedanke, dass die Besserung der Gesellschaft nur durch politische Aktio­nen bewirkt werden kann.“

Nach ausführlichem Studium des Buddhismus, Yoga, christlichen My­stizismus, usw., fand sich Doris Lessing stark zum Sufismus, der dominanten mystischen Bewegung des Persiens ihrer Kindheit hingezogen. Jetzt, da sie zwan­zig Jahre bei Sufi Lehrer Idries-Shah gelernt hat, behauptet sie, der„ Religion“ immer noch so feindselig gegenüber­zustehen wie eh und je. Für den Leser ihrer Bücher sieht es so aus, als hätte sie hauptsächbch von Shah gelernt, die Menschheit und die Probleme dieses Planeten auf völlig neue Weise zu sehen.

Der Sufismus, wie ihn Shah lehrt, will keine Religion sondern vielmehr ein System sein, anhand dessen man lernt, objektiv wahrzunehmen – nicht im Sinne der Naturwissenschaften sondern mit einer Art tieferen, organischeren Objek­tivität. So handelt eine der „sufistischen Passagen“ in Lessings Romanen nicht im geringsten von Mystizismus sondern von der Wissenschaft und wie man ganz erfassen kann, was wir normalerweise nur auf abstrakte Weise „wissen“. Die­ser Abschnitt betrifft einen jungen Israeli, der versucht, etwas über Relativi­tät zu erfahren von einem alten Rabbi­ner, von dem man sagt, er würde sich in solchen Dingen auskennen:

Er sagte: „Soso, du willst also Naturwissen­schaften lernen? Für die meisten Menschen ist Kopernikus noch gar nicht geboren. Pass mal auf und denke: Die Sonne ist eine große Masse aus weißem Licht, und im Licht der Sonne kreisen ein Dutzend kleine Partikel Materie. Du lebst in einem kleinen Stück Sonnenmaterie, und du kreist um die Sonne. Und nun fühle das! Ich sage zu ihm: Bringen Sie mir etwas über Einstein bei! Er sagt: Jedes Mal, wenn du im Lauf des Tages zu dir selbst kommst, denk daran, wo du dich befin­dest – denk dir die Erde und die Planeten und dich auf einem kreisenden Planeten. Wenn du nachts im Dunkeln aufwachst, stell dir vor, wie in der dunklen See die Fische in die Tiefe sinken und sie, wenn das Licht kommt, an die Ober­fläche zum Licht steigen. Denk an die Vögel, wie sie über die ganze Erde ziehen, hin und zurück, sommers wie winters. Das ist Naturwissenschaft. Er sagte: Denke daran, dass die Bäume nachts ein-und tags ausatmen. Fühle es! Fühle, wie die Erde sich unter dir dreht und wie die Planeten sich gemeinsam im Kreis bewegen. Wenn du das fühlst, fühle es mit jeder Faser, so dass das jede Minute deine Art ist, das Leben zu fühlen, dann komm zu mir und wir sprechen über Einstein.“
— Doris Lessing, Landumschlossen

Auch wenn hier ein Rabbiner spricht: es ist der reinste Sufismus. Um Erleuchtung zu erlangen, sagen die Sufis, müssen wir zuerst eine objektive Beziehung zu dem schaffen, wer wir sind, wo wir sind und was um uns herum geschieht, und dieses Wissen muss auf eine besondere Art erkannt und erinnert werden, so dass man das Leben jederzeit auf eine bestimmte Weise spürt. Der Sufismus macht es den vielen Suchern nach „mystischen Ge­heimnissen“ nicht leicht, weil verlangt wird, dass dieses Erkennen und Erinnern bewusstes Gewahrsein aller jener Fakten menschlicher Psychologie und Verhal­tens einschließt, die wir normalerweise lieber verdrängen. „Der Narr vergisst nicht, noch vergibt er“, schrieb Shah einst; „der Halberleuchtete vergibt und vergisst, doch der Sufi vergibt, aber er vergisst niemals.“ Etwas von dem, was Sufis nie vergessen und Lessing immer wieder unter die kollektive Nase ihrer Leser reibt, ist die historische Tatsache, dass die menschliche Gesellschaft seit einigen Jahrtausenden ein Bündnis mit der Heuchelei, der Ausbeuterei und dem Massenmord geschlossen hat. Wie Gul­livers Reisen zeigt auch Shikasta die Menschheit hauptsächlich als „die häss­lichste Sorte von Ungeziefer, die je umhergekrochen ist“. „Wir Menschen sollten eine weniger schmeichelhafte Meinung von uns haben“, sagt Doris Lessing oft.

Worin sie (und der Sufismus) sich von Satirikern wie Swift unterscheidet, ist, dass sie ein riesiges, wenn auch unausge­schöpftes Potential in dieser „hässlichen Rasse“ sieht. In der Canopus im Argos­ Serie, von der das Swiftsche Shikasta nur der erste Band ist, stellt Lessing dieses Thema als kosmischen Krieg dar, mit Anklängen an die Bibel, den hinduisti­schen Schriften, Krieg der Sterne und den prophetischen Büchern William Blakes. Die Galaxis enthält sowohl die Räume, die wir kennen, wie auch andere „Zonen“, die wir gegenwärtig nicht wahrnehmen können. Eine „Schleuse“, auch bekannt als „die Notwendigkeit“ ist von der am höchsten entwickelten Rasse von allen, der Zivilisation von Canopus, errichtet worden; funktioniert sie, sollte sie es der SdWF (Substanz-des-Wir-­Gefühls) erlauben, wie ein kosmischer Ozean der Liebe durch alle Räume und Zonen zu fließen. Leider ist die Schleuse durch einen interstellaren Unfall beschä­digt worden, und die Erdentiere (wie wir meist genannt werden) können nicht länger unmittelbar mit der Substanz-des­-Wir-Gefühls in Verbindung treten. Dies macht sie zu den Opfern der Raumpira­ten von Sharnmat, einer Rasse von Ener­gievampiren, die sich von den negativen Gefühlen ernähren, die die Erdlinge aus­strahlen, seit sie den Kontakt mit der Substanz-des-Wir-Gefühls verloren ha­ben. Praktisch bedeutet dies, dass sich die Menschheit dauernd in einem Halbschlaf befindet, unfähig, sich ihrer wirklichen Situation in Raum und Zeit zu erinnern und je länger je mehr Opfer von Betäu­bung, Gewalt und anderen abwegigen Verhaltensweisen wird. Die Bürokraten von Sirius führen inzwischen Versuche an diesen halbverrückten Erdentieren durch; Versuche, die sie harmlos glau­ben, und während sie sich des Vampiris­mus von Shammat gewahr sind, können und wollen sie nicht zugeben, dass Canopus die Lage besser versteht als Sirius. Gleichzeitig sind in anderen Zonen andere Arten von Intelligenz tätig, die mit der Erde auf einer Weise in Verbindung stehen, die an Themen aus heiligen Schriften und Mythologien von überall her erinnern. Kurz: Lessing hat eine Kosmologie geschaffen, die sich auf der einen Ebene auf halbem Weg zwischen Science Fiction und Volksepos und, auf der anderen, zwischen Parabel und Tiefenpsychologie hält.

Einige okkulte Gruppen haben sich diese fiktive Kosmologie bereits zueigen gemacht – wie sie es mit dem Wüsten­planet und Heinleins Fremder in einer fremden Welt taten. Feministinnen, Pazi­fisten, Umweltschützerund „New Age“­-Denker haben in den Canopus-Romanen eine neue Lieblingslektüre gefunden und ihnen jeweils eigenartige und ironische, manchmal auch ergreifend schöne neue Deutungen auferlegt. Die Serie wurde sowohl als „lyrisch und spektakulär“ beschrieben (Sunday Times) wie auch, von Anthony Burgess, gepriesen für „ihre Hoffnung und ihr Glaube an die Liebe“ und „reine Freude“, applaudiert für „Süße, Mitgefühl und Weisheit“ (Ti­me), von der New York Times für ihre Fähigkeit „Aggression, Zärtlichkeit, Lust, Passivität, Zweideutigkeit, Feind­seligkeit – das ganze Spektrum sexueller Gefühle“ auszudrücken gelobt. Der Daily Telegraph pries Lessings „großen Charme und Sinn für Humor“. Dies als Maßstab für den eigenartigen Zauber, der von der Serie ausgeht, denn die Canopus-Romane sind, wie Time feststellte, gleichzeitig ein „großartiges Traktat gegen die menschliche Zerstö­rungswut“ und ein Werk das, wie Nietz­sches Zarathustra, ständig hinab schaut auf menschliche Wesen, die es als krie­chende kleine Affen sieht.

Doris Lessing lebt in einem ruhigen Londoner Vorort und arbeitet in einem Zimmer ganz oben in ihrem Haus, von wo sie eine großartige Aussicht über Parkanlagen und offene Felder bis hin zur Londoner Innenstadt mit ihren histo­rischen Wahrzeichen hat. Gesprächspart­ner Robert Anton Wilson schreibt: „Die einzigen Bilder, die ich von ihr gesehen hatte, waren Nahaufnahmen, die ein star­kes, breites Gesicht mit hohen Backen­knochen zeigten: Ich erwartete, eine hünenhafte, überwältigende Frau anzu­treffen. Zu meiner großen Überraschung ist Frau Lessing klein, schlank und unge­wöhnlich geduldig und entgegenkom­mend. Sie lächelt häufig, und ihre här­testen Urteile werden mit einer traurigen Art Humor abgegeben, nicht mit Bitter­keit, die in manchen ihrer Romane zutage tritt. Als ich eintraf, war sie dabei, die Morgenpost zu sortieren und hatte offenbar gerade einen Geburtstagsgruß erhalten, denn sie eröffnete das Ge­spräch, indem sie sagte, dass sie in ein paar Tagen vierundsechzig würde. „Ich fühle mich nicht wie vierundsechzig“, sagte sie, „nicht mehr als Sie sich so alt fühlen, wie Sie sind.“

Nachdem wir uns etwa während einer Stunde unterhalten hatten, fragte sie mich, ob ich ein Bier wollte, und als ich die Flasche leergetrunken hatte, holte sie eine weitere. Ihre hervorragendste Eigenschaft, dachte ich, war nicht nur ihre Freundlichkeit jemandem gegen­über, der für sie sicher nichts anderes als ein weiterer, lästiger Journalist war, son­dern vielmehr ihre unsentimentale Intel­ligenz. Ich hatte oft das Gefühl, als unter­halte ich mich mit einem Sozialwissen­schaftler oder einem Biologen statt mit einer Romanautorin; sie scheint sich ständig aufs Tiefste damit auseinander­zusetzen, warum die Menschen das tun, was sie tun, und sie trachtet nach Ant­worten von der Art, wie sie ein Wissenschaftler suchen würde. Als ich sie verließ, fühlte ich mich wie nur wenige Male in meinem Leben – als ich Bucky Fuller oder den einen oder andere Physi­ker interviewte –, ich war nicht nur wirk­licher Intelligenz begegnet sondern wah­rem Genie.



Robert Anton Wilson trifft Doris Lessing
ist im Sphinx-Magazin, Ausgabe Nummer 26 im Juli 1983 erschienen.

Share