Der Traum des Fliegens

Einführung zu Illuminaten der Nacht

Dieses Buch handelt vom Traum des Fliegens und seiner Umsetzung in die Realität. Träume vom Flie­gen tauchten im kollektiven Unbewussten auf, bevor die Technologie das Fliegen tatsächlich ermöglichte, und es erscheint plausibel, dass der Mensch die Technologie klü­ger einsetzen würde, wenn er seine Träume besser verstün­de. Maschinen sind nichts anderes als materialisierte Träu­me. Eine Untersuchung darüber, wie die Menschheit mit Hilfe der Wissenschaft ihre Träume und Alpträume verar­beitet, ließe sich ohne weiteres als Psychoanalyse ihrer Kultur lesen.

Warum haben wir immer vom Fliegen geträumt, und warum haben wir Flugzeuge gebaut? Offenbar ist diese Frage von „eminenter“ Bedeutung in einer Welt, in der zweihun­dert Millionen Menschen jährlich den Kennedy Internatio­nal Airport benutzen, um in der einen oder anderen Richtung den Atlantik zu überfliegen.

Um das Tiefgründige zu verstehen, ist es manchmal hilf­reich, mit trivialen Beobachtungen zu beginnen. Ich schla­ge daher vor, dass wir uns dem zuwenden, was unsere Kinder jeden Samstagvormittag im Fernsehen sehen. Eine der beliebtesten Szenen in Zeichentrickfilmen ist die, dass der Protagonist den Rand eines Felsens überschreitet, ohne es zu merken. Auf erhabene Weise unbewusst geht er weiter – in der Luft – , bis er merkt, dass ihm das „Unmögli­che“ gelungen ist, und im selben Augenblick stürzt er in die Tiefe. Ich glaube, es gibt keinen Leser dieses Buches, der diese Szene nicht irgendwo schon einmal gesehen hat; die meisten von uns kennen sie von Kindesbeinen an. Es klingt vielleicht an den Haaren herbeigezogen, wenn ich in diesem Hollywood-Klischee die Konturen eines Jung­schen Archetypus zu entdecken glaube, trotzdem bitte ich Sie, mir einen Augenblick zu folgen.

Wenn Hollywood uns das offensichtlich Mythische zeigen will, greift es zu Superman, der mit einem Satz über Wolkenkratzer springt, oder erfindet einen Helden na­mens Luke Skywalker.

Das Tarot, jene konzentrierte Enzyklopädie des kollekti­ven Unbewussten, beginnt mit der Karte des Narren, und der Narr wird in dem Moment dargestellt, als er den Rand eines Abhangs überschreitet – genau wie Donald Duck oder Wile E. Coyote Coyote im Zeichentrickfilm. Eine griechische Legende (die James Joyce als Archetypus für das Leben des Künstlers diente) berichtet von Dädalus und Ikarus: Dädalus, der, in einem Labyrinth („konventio­nelle Realität“) gefangen, Flügel erfand und über die Köpfe seiner Verfolger hinweg davon flog, und Ikarus, sein Sohn, der der Sonne zu nahe kam und wieder zur Erde zurück­ stürzte. Wie bei Schweinchen Dick, das über den Rand des Abhangs hinausspaziert, zeigt sich auch im Sturz des Ika­rus eine Symbolik, die viele aus den eigenen Träumen kennen.

Das Emblem des Sufi-Ordens ist ein Herz mit Flügeln (und das des Ordo Templi Orientis ein Kreis mit Flügeln, der die Leere und die Erfüllung zugleich symbolisiert). Thoth, der ägyptische Gott der Weisheit, hatte das Haupt eines geflü­gelten Wesens, des Ibis; Hermes, sein griechischer Gegen­spieler, erschien menschlicher, trug jedoch geflügelte San­dalen. Die Gebrüder Wright, die uns allen das Fliegen ermöglicht haben, sind bis heute im Gedächtnis des Volkes erhalten­ wie viele Leser aber erinnern sich an die Namen der Erfinder gleichermaßen bedeutender (doch erdgebunde­ner) Geräte wie Fernsehen, Staubsauger, Computer, La­ser oder die moderne Haustoilette? Während andere Ge­nies ganz offensichtlich „von den Massen vergessen wur­den“, bleibt es nach wie vor bei der immer gültigen Abfuhr für jeden Konservativen, der der menschlichen Kunst Grenzen setzen will – „Ich hab’s Wilbur gesagt, und ich hab’s Orville gesagt: Diese Kiste kriegt ihr nie und nim­mer in die Luft!“

Ein Teil der Funktion des Fliegens, so vermute ich, be­steht darin, mit unserer Vorstellung von Grenzen aufzu­räumen und uns auf die Einsicht vorzubereiten, die Dr. John Lilly im Zentrum des Zyklon so anschaulich formulier­te:

Im Bereich des Geistes ist das wahr oder wird wahr, was man für wahr hält, und zwar innerhalb von Grenzen, die empirisch und experimentell feststellbar sind. Diese Grenzen sind zukünftige Überzeugungen, die transzen­diert werden müssen. Im Bereich des Geistes gibt es keine Grenzen.

Der Dichter Hart Crane versuchte zu beschreiben, was Wilbur und Orville Wright für seine Generation bedeute­ten (er starb in den dreißiger Jahren), indem er sagte, seit Kitty Hawk habe er die „größte Anziehungskraft des Mars“ gespürt. 1938 glaubten die Menschen, die erst nach Beginn von Orson Welles‘ Sendung ihr Radio einschalte­ten, dass sie echte Nachrichten härten und die Marsmen­schen bereits gelandet seien. Innerhalb der Grenzen unse­rer sozialen Vorstellungskraft hatte sich ein Quanten­sprung ereignet. Die Menschheit spürte wie Crane die „größere Anziehungskraft“ des Mars.

Kaum dreißig Jahre später spazierte Neil Armstrong über die Mondoberfläche, als sei er eine Figur aus Jules Verne, und wiederum zehn Jahre danach eroberten unsere Messge­räte die Marswüste, die „uns“ durch die Visionen eines Edgar Rice Burroughs oder Ray Bradbury bereits vertraut war. Wenn dies nicht William Blakes berüchtigte Forde­rung bestätigt, „dichterische Vorstellungskraft“ solle als Synonym für „Gott“ dienen, so deutet sie doch zumindest an, dass dichterische Vorstellungskraft ein Synonym für Schicksal sein könnte. Vielleicht sollten wir der Tatsache, dass Dädalus im Grie­chischen „Künstler“ bedeutet, mehr Aufmerksamkeit wid­men. Dädalus, der Erbauer des Labyrinths, von denen gefangen gehalten, denen er diente, in einem Labyrinth, das er selbst entworfen hatte; Dädalus, der Erfinder von Flügeln, die ihn von der Erde in den Weltraum beförderten – warum steht dieser Mann eher für die Kunst als für die Wissenschaft? Um das zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass die alten Griechen nicht wie wir einen Unterschied zwi­schen Kunst und Wissenschaft machten. Das Genie eines Künstlers, so Aristoteles, liegt in seinem Tekne. Dieser Begriff ist die Wurzel unserer „Technologie“, doch Tekne bedeutet im Grunde Geschicklichkeit, Handwerk oder die Fähigkeit, Dinge zu entwerfen, die es zuvor nicht gab.

In unserer Zeit dagegen fand man Strawinski „geistreich“ oder „paradox“ (oder bewusst geheimnisvoll), wenn er sich selbst als „Klangtechniker“ bezeichnete. Ein Künstler, der sich für einen „Ingenieur“ hält? Lässt sich kaum nachvoll­ziehen. Trotzdem werden nur wenige Augenblicke der Betrachtung genügen, um zu zeigen, dass in Strawinskis Musik ebenso viel präzise strukturiertes Wissen steckt wie in Roeblings Entwürfen für die Brooklyn Bridge – jenes Bauwerk, das nach seiner Fertigstellung als Wunder galt und von Hart Crane als Symbol für die Einheit von Kunst und Wissenschaft gefeiert wurde.

Unser dichotomes und dualistisches Denken ist in letzter Zeit so oft angeprangert worden, dass ich wohl kaum auf diesen Punkt eingehen muss. Der Musiker und der Archi­tekt, der Dichter und der Physiker, so mein Vorschlag, sollten am besten als spätevolutionäre Entwicklungen des Typus angesehen werden, der zuerst als Schamane er­schien. Schamanen gelten in den meisten Kulturen als „jene, die auf Wolken gehen“ – so wie unser Luke Skywal­ker. Es ist bestimmt kein Zufall oder reine Willkür, dass Laputa, das Heim der Wissenschaftler, von Swift in den Himmel verlegt wurde, um so derWissenschaft unterzuschieben, sie stehe nicht mit allen vier Beinen auf dem Boden der Tatsachen.

Auch Aristophanes stellte Sokrates in den Wol­ken dar, um auf ähnliche Weise die Philosophie in Verruf zu bringen. Der Weltraum scheint das natürliche Reich aller Schamanenabkömmlinge zu sein, ganz gleich, ob sie Künstler, Philosophen oder Wissenschaftler heißen. Swifts und Aristophanes‘ Ironie und der Mythos des Stur­zes von Ikarus und Donald Duck deuten darauf hin, dass dem kollektiven Unbewussten eine Macht innewohnt, die sich unseren Träumen vom Fliegen widersetzt. Dies er­scheint unausweichlich. Wie Jung, der radikalste Erkunder der kollektiven Psyche, häufig andeutete, besteht eine unvermeidliche Polarität zwischen den Symbolen des Traumes und denen des Mythos, ein „Gesetz der Gegensät­ze“, das Jung mit dem chinesischen Konzept von Yin und Yang verglich. So ist Jekyll in Hyde enthalten, wird Liebe zu Hass, erscheinen Cupid und Psyche als Schatten von Opera und Margaritta, aber auch als King Kong und Fay Wray.

Im vorliegenden Kontext bedeutet das Gesetz der Gegen­sätze, dass wir uns danach sehnen zu fliegen und uns gleichzeitig vor dem Sturz fürchten. Unser Innerstes findet nicht nur in Orville Wright seinen Ausdruck, der sich wie ein Vogel vom Kill Devils Hill bei Kitty Hawk in die Lüfte erhob, sondern auch in Sirnon Newcombe, dem großen Astronomen, der mathematisch „bewies“, dass ein derarti­ger Flug unmöglich sei.

Wie ich anderswo andeutete, resultieren Neophilismus und Neophobismus – die Liebe zum Neuen und die Angst vor dem Neuen – aus den primären Polaritäten der ersten Prägungen des Neugeborenen. Anders ausgedrückt: Das, was Dr. Timothy Leary den Bioüberlebensschaltkreis des Nervensystems nennt und ich lieber als orales Bioüberle­benssystem bezeichne, da es die immunen, endokrinen und neuropeptidischen Subsysteme enthält, prägt den Men­schen so sehr, dass sich innerhalb kürzester Zeit entweder ein grundlegender Forschungsdrang oder ein grundlegen­der Konservatismus herausbildet. Das ist in meinen Augen die Erklärung dafür, warum manche Babys „vor Entzücken kreischen“ und andere vor Schreck schreien, wenn man sie in die Luft wirft und wieder auffängt. Kinder, denen diese Art des Fliegens gefällt, so vermute ich, verfügen bereits über eine neophilistische Prägung, während diejenigen, die sich dabei fürchten, neophobisch geprägt sind.

Natürlich ist das Universum in der Lage, über zwei hinaus­ zu zählen (wenn auch aristotelische Logiker dies leugnen), und daher sind nur wenige von uns rein neophilisch oder neophobisch geprägt. Wir schwanken zwischen diesen Ex­tremen – Freude und Angst, Konservatismus und Entdeckerfreude, der Sehnsucht nach dem Fliegen und der Angst vor dem Sturz – hin und her. Zuweilen fühlen wir uns wie Jonathan Livingston Seagull, sind überzeugt, dass „ein wahrer Himmel keine Grenzen kennt“, und versuchen, höher und schneller zu fliegen, und dann wieder sind wir lahme Reagan-Enten, die nervös warnen, dass zu hohes und zu schnelles Fliegen das Gehirn schädigen kann und zu den überlieferten Gebräuchen der Herde vollkommen im Wi­derspruch steht („Sag einfach nein zum Fliegen!“). Beides steckt in uns: Orville Wrights Sprung in die Zu­kunft, „die kein Mensch je betreten hat“, und Sirnon Newcombes Beweis, dass Orvilles Sturz wie der von Hump­ty Dumpty unausweichlich ist.

Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf Joyces poetische Schilderung:

Mein großes blaues Schlafzimmer, die Luft so still, kaum eine Wolke. In Ruhe und Frieden. Ich hätte dort oben bleiben können für ewig nur. Ist es so, dass uns etwas misslingt. Zuerst fühlen wir. Dann fallen wir … Wenn ich ihn sehen täte, wie er sich auf mich stürzt in diesem Moment unter weit ausgebreiteten Schwingen, als käme er von den Erkengeln, ich traube, ich verginge unter seinen Füßen, humbly, dumbly, um abzuwaschen.

Trotz der vielschichtigen Traumsymbolik – der irische Regen, der fällt, um sich in den irischen Fluss Anna Liffey zu verwandeln, Luzifer und seine Gastgeber, die vom Himmel herabstürzen, der Sturz von Adam und Eva und Hump­ty Dumpty, Marias unbefleckte Empfängnis, die ihr der Erz­engel verkündet, Magdalena, die des Erlösers Füße wäscht, der Heilige Geist, der als Taube herabfährt, um den Apost­eln das Geschenk der Sprache zu bringen, eine Hausfrau, die das Frühstücksgeschirr spült – beschwört Joyce hier vor allem die tiefe Überzeugung der Menschheit, dass die Schwerkraft „uns herunterzieht“, und zugleich ihre Sehn­sucht, sich diesem Sog zu widersetzen und in das eigentli­che Reich über den Wolken zurückzukehren.

1988 erscheint die alte ägyptische und gnostische Vorstel­lung, dass unser Ursprung und unser Ziel weit über die Erde hinausreichen, weniger kurios und unverständlich als noch vor wenigen Generationen. Aus Werken wie Dr. Timothy Learys Info-Psychology, Dr. Fraucis Cricks Cosmic Pansper­mia oder Sir Fred Hoyles Evolution from Space ergeben sich überzeugende Beweise dafür, dass das Leben seinen Anfang nicht auf diesem Planeten nahm, sondern aus dem Weltraum hierher gelangte. Während die individuellen Interpretationen dieser hervorragenden Philosophen und Wissenschaftler sich unterscheiden – Leary glaubt, eine fortgeschrittene, nach Liebe und Eintracht strebende In­telligenz habe das Leben auf die Erde gebracht, während Crick die These vertritt, eine weiterentwickelte Zivilisa­tion habe das irdische DNS als interessantes Experiment erschaffen, und Hoyle schließlich behauptet, einige Samen seien durch Zufall (Kometen usw.), andere aus unbekann­ten Gründen durch höhere Intelligenzen hierher gelangt -, sprechen ihre unterschiedlichen Beweise aus verschiede­nen Forschungsbereichen außerordentlich dafür, dass die Evolution älter und umfassender ist, als es uns überliefert ist und wir gewöhnlich denken. Man legt ihre Bücher beiseite und wird den Verdacht nicht los, dass die orthodoxe biologische Sicht, welche die Evolution auf der Erde als losgelöst von der des Kosmos betrachtet, von unausgespro­chenen kopernikanischen Folgerungen aus der zentralen und deswegen isolierten Stellung der Erde herrühren muss. Abgesehen von den intellektuellen und gelehrten Werken Learys, Cricks und Hoyles kann man seit einiger Zeit auch die Zunahme einer „vulgären“ oder zumindest weit verbrei­teten Art von Literatur beobachten, die behauptet, „antike Astronauten“ hätten die Saat auf unserem Planeten ver­streut, nicht die des Lebens an sich, sondern lediglich die der (post-neandertalischen) Menschheit. Statt sich über die Mängel in den Argumenten dieser scheinbar „schwach­sinnigen“ Literatur aufzuregen, sollte man sich lieber Ge­danken darüber machen, warum dieser populäre Mythos den Massen eine unwissenschaftliche, anthropozentrische Form derselben Theorie liefert, die in Info-Psychology, Cosmic Panspermia und Evolution from Space nüchterner dargestellt wird. Wie kommt es, dass erst- und zweitklassige Schriftsteller und Wissenschaftler sich plötzlich so intensiv mit der außerirdischen Evolution beschäftigen, während neuntrangige sich immer mehr der Pop-Ufologie zuwen­den?

Und warum, so könnte man fragen, taucht dieses Thema an zentraler Stelle auch im „unheimlichsten“ und meistzitier­ten Science-fiction-Film aller Zeiten auf, Kubricks unver­gleichlichem 2001? Wenn eine Vorstellung oder ein Archetypus fast gleichzei­tig in gelehrten Wälzern, Boulevardzeitungen, im Volks­glauben ebenso wie in neuen Sekten und in der hohen Kunst auftaucht, könnte man auf die Idee kommen, dass dies etwas mit dem zu tun hat, was Jung in seinem Buch Fliegende Untertassen „eine Verschiebung in der Konstella­tion der Archetypen“ nannte. In der Sprache der heutigen Neurowissenschaften ausgedrückt, meinte Jung wohl, dass der „Dialog“ zwischen DNS und CNS -die neuropeptidi­sche „Sprache“ von Genen und Gehirn – uns auf einen neuen, entwicklungsgeschichtlichen Sprung vorbereitet.

Irgendwann werden Sie in diesem Buch an die Stelle kommen, wo der Held sagt:

Ich erkannte, dass ich nur so frei war, wie ich selbst es mir vorstellte, und dass es keine Grenzen dafür gibt, wie hoch wir fliegen können!

Noch ein Beispiel dafür, dass der Archetypus des Fliegens stets in zentraler Verbindung mit dem Konzept der Über­schreitung aller Grenzen steht. („Was man für wahr hält, ist wahr oder wird wahr“ …) Und wieder einmal müssen wir uns fragen, ob es mehr ist als nur kindliche Phantasie, wenn Donald Duck mit den Bei­nen durch die Luft rudert, bis ihm einfällt, dass dies in unserem gegenwärtigen Realitätstunnel offiziell „unmög­lich“ ist.

1904, als Einstein mit seiner Arbeit über die Relativitäts­theorie begann und die Gebrüder Wright die Prototypen ihrer Flugmaschine testeten, die schließlich nach vielen Rückschlägen zum Erfolg führen, „erhielt“ – oder erschuf mittels poetischer Vorstellungskraft – Aleister Crowley, der umstrittenste Mystiker unseres Jahrhunderts, ein Doku­ment, das ihm in seinen Augen von einer Höheren Intelli­genz diktiert worden war. Liber AL oder The Book of the Law ist die angebliche Botschaft der ägyptischen Sternengöttin Nuit, die Crowley in seinen Kommentaren als höchstes kosmisches Bewusstsein oder als Summe aller synergetisch­-interaktiven Intelligenz von Raum-Zeit interpretierte. Un­ter anderem offenbarte diese „Wesenheit“ oder Körper­schaft Crowley folgendes:

Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern …
Ich bin über dir und in dir.
Meine Ekstase durchdringt die deine.
Meine Freude besteht darin, deine Freude zu erkennen …
Denn um der Liebe willen bin ich geteilt, für die Chance der Einheit …
Lege Schwingen an und erwecke die spiralförmige Herrlichkeit in deinen Inneren: Komm über mich!

Die Interpretation dieser Verse ist vielfältig; vielleicht sind Sie später erstaunt über einige Bedeutungen, die Sie jetzt noch nicht bemerken, nachher jedoch, wenn Sie den Ro­man gelesen haben, vielleicht ganz selbstverständlich finden. Ich selbst kann nach der Lektüre einiger moderner Wissen­schaftler, welche die Evolution als irdisch und außerirdisch zugleich bezeichnen, Liber AL nicht in die Hand nehmen, ohne zu denken, dass die interstellaren Schöpfer, die das Leben hierhin brachten, uns möglicherweise Signale über­mitteln, damit wir zu unserer Heimat in den Sternen zurückkehren, jenem großen blauen Schlafzimmer, das Joyce auf der letzten Seite von Finnegans Wake beschwört und in dem sich der Astronaut David Bowman auf dem Höhepunkt von 2001 so unerwartet wiederfindet.

Natürlich lässt sich die Sprache des dichterischen Mythos, wie die des Traums, immer nur analog und allegorisch, aber nicht wörtlich verstehen; hier (oder in dem folgenden Roman) nur eine einzige Bedeutung zu sehen heißt, „in die Hölle des Weil zu stürzen und mit den Hunden der Ver­nunft unterzugehen“ (Crowley). Ein echter Archetypus ist wie ein mit Spiegeln ausgekleidetes Labyrinth. Betrachten wir ein Beispiel. In meinem Traumtagebuch vom 23. April 1968 habe ich morgens beim Aufwachen die folgenden Bilder einer hermetischen Reise durch die Gefil­de der Nacht festgehalten:

  1. Ich befinde mich in einem Nachtklub von Chicago, der früher von John Dillinger frequentiert wurde. Ich sehe, dass seine jetzigen Gäste ebenfalls Gangster sind. Sie beobachten mich feindselig, und ich kriege Angst. Ich versuche, den Laden zu verlassen; sie versuchen mich aufzuhalten. Ich öffne eine Tür.
  2. Ich bin in der U-Bahn von New York. Ich sitze im ersten Wagen und starre in den Tunnel vor mir (wie früher als kleiner Junge). Plötzlich sehe ich eine steinerne Wand und weiß, dass der Zug dagegen prallen wird und dass wir alle umkommen werden, auch ich.
  3. Ich bin raus aus der U-Bahn und laufe durch Cicero, lllinois. Eine wütende Menge kreist mich ein. Offen­sichtlich weiß sie, dass ich vor kurzem am Martin-Luther-King-Marsch durch ihre Stadt teilgenommen habe, um gegen die Apartheid zu demonstrieren. Ich kann ihr nicht entkommen. Plötzlich weiß ich intuitiv, was ich tun muss. Ich schreie „Elohim!“, breite meine Schwingen aus und fliege über die Köpfe der Menschen hinweg. Der Himmel ist wunderbar, und ich fühle mich vollkommen sicher, friedlich, auf wahnwitzige Art voller Hoffnung.

Als ich aufwachte, dachte ich an Chestertons Bezeichnung der mystischen Erfahrung als „absurde gute Nachricht“.

Zur Zeit des Traums war ich mit Freunden in Chicago dabei, die „John Dillinger Died For You Society“ zu propa­gieren, eine Parodie fundamentalistischer Religionen, die wie jeder echte Witz auch ihre ernsten Seiten hatte. Ich war fasziniert von der Beobachtung, dass bestimmte Gesetzes­brecher wie Dillinger (oder Jesse James oder Robin Hood) buchstäblich gezwungen waren, den archetypischen My­thos von Osiris, Dionysos, Adonis, Jesus Christus oder Joyces Tim Finnegan zu erfüllen. Eine ganze Weile dachte ich darüber nach, wie das Leben anderer Gesetzesübertre­ter, die nicht halbwegs den Forderungen des Mythos ent­sprachen, nachträglich so hingebogen wurde, dass es der Volksmeinung Genüge tat.

Der erste Teil des notierten Traums konfrontiert mich mit der Schattenseite des Ar­chetypus und hält mir vor Augen, dass echte Gangster nicht die mythischen Figuren sind, welche die dichteri­sche Phantasie aus ihnen macht, sondern skrupellose Psychopathen.

Im zweiten Teil des Traums beginnt meine unterweltliche Initiation. Obgleich ich Symbole aus meinem eigenen Leben benutze (U-Bahn), trete ich damit in die Fußstap­fen von Ischtar im Land der Toten, Odysseus, der zum Hades segelt im Streben nach Weisheit, Jesus und Dante beim Abstieg in die Hölle, usw. In der Alchimie hieß dieses Phänomen Negrito, und Jung verglich es mit den Anfangsstadien der Psychotherapie. In gewissem Sinne erscheint die Reise in die Unterwelt wie das Gegenteil und zugleich als Vorbereitung, um das Fliegen zu erreichen. Dante musste durch die Hölle wan­dern, ehe er auf den Läuterungsberg stieg und sich über die Wolken in den Himmel erhob. Im nachhinein bin ich besonders angetan von dem Freudschen Witz des Unter­bewusstseins, das moderne Gestalten aus der „Unterwelt“ – Gangster! – benutzt, um das mythische Totenreich zu repräsentieren.

Im dritten Teil des Traums greifen mich die traditionel­len grimmigen Dämonen an, personifiziert durch die Bür­ger von Al Capones Heimatstadt Cicero – vielleicht, weil mich die Leute dort stets an grimmige Dämonen erinner­ten, wenn ich mit ihnen zu tun hatte. Ich entkomme mit Hilfe eines Begriffes aus der hebräischen Bibel und bin schließlich in der Lage, wie Dante oder Dädalus aus der Hölle zu den Sternen zu fliegen. Was mich an diesen Traumsequenzen am meisten er­staunt, ist die Tatsache, dass ich zu jener Zeit keine Ahnung von der Kabbala hatte. Es war mir beim Erwachen ein Rätsel, wie ich auf den Ausdruck Elohim verfallen war und warum ich ihn auf so magische Weise benutzt hatte. Alles, was ich damals darüber wusste, war, dass der Name im ersten Kapitel der Genesis vorkommt und dass Philologen und Theologen darüber streiten, ob „Gott“ oder „die Götter“ damit gemeint sind – mit anderen Worten, ob das erste Kapitel der Heiligen Schrift ein Fragment aus einer polytheistischen Phase des Judaismus sein könnte.

Erst zwei Jahre nach diesem sehr Jungschen Traum fing ich an, mich für die Kabbala zu interessieren, und schließlich lernte ich auch, dass sie Elohim als bedeutende Bezeich­nung der Macht versteht, beispielsweise im Ritual der Mittleren Säule, das jeder Schüler der Kabbala mindestens einmal in der Woche durchführen sollte. Die Funktion kabbalistischer Rituale im allgemeinen und dieses Rituals im besonderen hat Crowley einmal darin gesehen, „den Geist des Studenten geradewegs in die Unendlichkeit zu erheben“ – über alle Grenzen hinweg. Das wird in meinem Traum wie in vielen Träumen und Mythen durch das Bild des Fliegens und die Überwindung der Schwerkraft symbo­lisiert. Der Traum von 1968 scheint Erkenntnisse aus dem Studium der Kabbala vorwegzunehmen, das ich dann zwi­schen 1971 und 1975 mit großem Ernst betrieb. Natürlich wird ein Rationalist, wenn man es wagt, in seiner Gegenwart Träumen Vorahnungen zuzuschreiben, sofort einwenden, solche Verbindungen zwischen Traumbildern und späteren Ereignissen seien rein zufällig. Dieser spe­zielle „Zufall“ gibt jedoch zu denken, wenn man berück­sichtigt, dass mein Interesse an der Kabbala durch die Werke Dr. Israel Regardies geweckt wurde und der folgen­de Roman von Dr. Christopher S. Hyatt, einem ehemali­gen Schüler Dr. Regardies, veröffentlich wird. Sowohl Dr. Hyatt wie auch Dr. Regardie waren Therapeuten im Sinne C. G. Jungs, und es war Jung, der mich bewog, in meinem Traumtagebuch nach „Zufälligen Übereinstimmungen“ zwischen der Traumwelt und der Wachwelt zu suchen. Diese seltsamen Verbindungen (Wilson-Regardie-Hyatt – der Traum von 1968 – meine spätere Beschäftigung mit der Kabbala – der vorliegende Roman) scheinen Jungs Definition von Synchronizität als „psychologisch erzeugte Raum-Zeit-Relativität“ zu bestätigen.

Zur Zeit jenes Traums oder jener Traumsequenzen litt ich an einer mittelschweren Depression und an den allgemei­nen Symptomen dessen, was man heute unter Midlife-crisis versteht. Ich hatte einen interessanten Job beim Playboy mit einem für die damalige Zeit exzellenten Gehalt, aber ich näherte mich den Vierzigern und wollte schreiben. (Drei Jahre später, als mein Interesse für die Kabbala erwachte, kündigte ich meinen Job und verbrachte seitdem jede freie Minute mit Schreiben. Obwohl auch ich mit den üblichen Erschütterungen, Enttäuschungen und schmerzlichen Verlusten im Leben fertig werden musste, habe ich nie wieder an klinischer Depression gelitten.)

Vielleicht ist es aufschlussreich, meine Aufzeichnung mit einem Traum zu vergleichen, den Joseph Campbell in Der Heros in tausend Gestalten erzählt. Dort sah der Held ein geflügeltes Pferd mit einem gebrochenen Flügel, das darum kämpfte zu fliegen und doch stets wieder zur Erde zurück­fiel. Campbell macht sich nicht die Mühe, diese Symbolik zu interpretieren, sondern teilt uns lediglich mit, dass der Träumer ein Dichter war, der als Dienstbote arbeiten musste, um seine Familie zu ernähren – und schon hat man das Bild verstanden.

Irgendwie sind uns allen die Flügel gebrochen worden; jedenfalls ist das der Zweck „geheiligter Institutionen“ wie organisierter Religionen oder der allgemeinen Schul­pflicht. Sie haben dafür zu sorgen, dass unsere Flügel gebrochen, zumindest aber gestutzt werden, ehe wir erwachsen werden. Wie anders soll die Gesellschaft an die insektoiden Einheiten kommen, die sie braucht, um die Nischen ihrer Bienenkorb-Ökonomie zu füllen?

Doch was, wenn uns plötzlich gesunde Organe von poeti­scher Vorstellungskraft und Flugvermögen nachwachsen? Was, wenn wir Schwingen anlegen und die spiralförmige Herrlichkeit in unserem Inneren erwecken, wie in Liber AL vorgeschlagen? Wird die Gesellschaft nicht genau mit der Wut reagieren, die Wayne Saalman hier beschreibt? Joyce nannte seinen emblematischen Künstler nicht nur Däda­lus, sondern Stephen Dädalus – nach dem heiligen Stefan, dem ersten Märtyrer, der von einer Vision berichtete und dafür zu Tode gesteinigt wurde.

Und scheint es nicht letztlich, aus evolutionärer Sicht, äußerst richtig, dass die Gesellschaft in dieser Weise rea­giert? Jenen unter uns, die nicht das Zeug zu Märtyrern haben, bleibt nichts anderes übrig, als die Kunst des Über­lebens zu lernen, auch oder gerade weil sie wissen, welche Neophobie im Mechanismus der „Gesellschaft“ oder des „Staates“ steckt. Mit einem Wort, sie müssen im sokrati­schen und im ordinärsten Sinne dieses Wortes „weise“ werden. Neophobie fungiert als evolutionärer Schub; sie zwingt den Neophilen, ganz schnell ganz gerissen zu wer­den, so wie auch die Dummheit den nur Intelligenten herausfordert, klüger und schlauer zu werden.

Was den Rest angeht, so scheint mir der Roman für sich zu sprechen. Jene, die dazu bereit sind, werden zwischen den Zeilen lesen. Als letztes Beispiel gnomischer Exegese biete ich Ihnen das 12. Theorem aus Aleister Crowleys Meister­werk Magick an:

Der Mensch kennt die Natur seines eigenen Wesens und seiner Kräfte nicht.
Selbst seine Vorstellung von seinen Grenzen basiert auf Erfahrungen aus der Vergangen­heit,
und jeder Schritt vorwärts dehnt sein Reich aus.
Es gibt daher keinen Grund, theoretische Grenzen dafür festzusetzen, was er sein oder tun kann.


Der Traum des Fliegens
von Robert Anton Wilson ist als Einführung zu Illuminaten der Nacht. Die Vimana-Verschwörung (1990) von Wayne Saalman, im Original The Dream Illuminati: A Global Revolution Takes Wing (1988) erschienen.

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