Der goldene Friedhof

Raymond Chandler und die Poesie der Gewalt

Raymond Chandler, ein in Eng­land aufgewachsener, von englischer Public-School-Stoik geprägter Ame­rikaner, war mit dreißig Jahren Zugskommandant im Ersten Weltkrieg. Chandler hatte sich zuvor bei­nahe ein Jahrzehnt lang um Anerkennung als Schriftsteller bemüht und war – aus triftigen Gründen – zu keinem Ziel gekommen; seine Gedichte waren neunzigprozentige Swinburne-Imitationen, und seine Essays sahen sogar noch schlimmer aus. Von dieser Literatur, wie man es damals nannte, getrennt, fand er sich dem Leben und dem Tod gegenübergestellt. Insbesondere leitete er mehrere Angriffe gegen deutsche Maschinengewehr-Einheiten.

„Mut ist ein seltsames Ding: man ist seiner nie sicher“, schrieb er Jahre später in einem Brief. „Vor vielen Jahren schien ich als Zugskomman­dant nie Angst zu haben, und dennoch fürchtete ich das kleinste Risiko.“ Von der Thematik angetan, sprach Chandler über den psychi­schen Zustand, wenn man sich einem Nest von Maschinengewehren nähert: „Wenn man die Kuppe eines Hügels zu überschreiten hatte, so schien man sich nur noch mit dem Gedanken zu befassen, die Männer auseinanderzuhalten, um Verluste zu mindern. Es war immer sehr schwie­rig, insbesondere wenn man Ersatz­leute oder Verwundete hatte. Es ist nur menschlich, sich angesichts des Feuers zusammenzuscharen.“

In den Fünfziger Jahren, als Chandler reich und berühmt geworden war – und als die Schwarze Liste schicksalsträchtiger war als jede Theaterkasse – dinierte einst J. Edgar Hoover in demselben Restau­rant in Hollywood wie Chandler. Hoover ließ durch einen Kellner ausrichten, dass er gerne mit dem be­rühmtesten Kriminalschriftsteller des Landes sprechen würde. Chandlers Antwort war kurz und typisch: „Sagen Sie Herrn J. Edgar Hoover, er solle sich zum Teufel scheren!“

Da sieht man, was eine englische Erziehung ausmacht: Chandler würde die Bezeichnung Herr nie vergessen, selbst wenn er jemanden zum Teufel wünscht; andere Höflich­keitsbeweise würde er jedoch einem Rowdy wie Hoover nie entgegenbrin­gen, selbst wenn Präsidenten der USA oder mächtige Präsidenten von Filmstudios vor dem Zorn Hoovers zitterten.

Leute, die mit Raymond Chandler zusammenkamen, nachdem er eine bekannte Persönlichkeit geworden war, erklärten immer wieder, dass er in keiner Weise seinem Romanhelden Philip Marlowe gleichen würde. Frank MacShanes Buch The Life of Raymond Chandler zeigt deutlich, wie Unrecht sie alle hatten. Mit einem Meter achtzig war Chandler fast vier Zentimeter kleiner als Marlowe; er war Brillenträger und sprach – wie allgemein berichtet wird – wie ein Professor. Letzteres bedeutet, dass er so sprach, wie ein englischer Public-School-Absolvent mit dem Hauptfach klassische Philologie eben spricht. Abgesehen von diesen Nebensächlichkeiten, war Chandler Marlowe und Marlowe Chandler. Der Mann, der in den Fünfziger Jahren zur Zeit der Hexenjagd J. Edgar Hoover zum Teufel wünschte, war derselbe, der in den Romanen bereit ist, für das, was er als schick­lich erachtet, gegen Ölmillionäre, Hollywoodproduzenten, korrupte Polizisten und den gesamten Macht­apparat zu kämpfen, der Südkalifor­nien zur reichsten Enklave des rechten Flügels außerhalb Dallas‘ gemacht hatte.

Chandler hatte lange gebraucht, um Marlowe zu kreieren. Wie Pounds Hugh Selwyn Mauberley, so fand auch Chandler, „dass der Erste Weltkrieg den Künstlerdrang in ihm zerstört hatte“. Er hörte auf, roman­tische Gedichte zu schreiben – was zum Teufel hatte das alles mit dieser Welt zu tun, die er im Krieg kennen­gelernt hatte? – und kehrte in seine Heimat zurück, wo er fünfzehn Jahre lang nicht eine einzige Zeile schrieb. Dafür wandelte er sich langsam vom englischen Schöngeist zum amerikanischen Businessman; keine geringe Leistung in Bezug auf eine geistige Neuprogrammierung! Dass er dies vor seinem fünfundvier­zigsten Lebensjahr zustande gebracht hat, ist erstaunlich; dass er in drei Ölfirmen zur obersten Geschäftsleitung gehörte, erinnert an Paul Gauguin, der ebenfalls den grössten Teil seines Lebens auf der Flucht vor der Kunst verbraucht hatte.

So schrieb Chandler später: „Ich verbrachte mein Leben am Rande des Nichts“, und bei anderer Gele­genheit fügte er bei: „Wenn man einmal einen ganzen Zug Soldaten ins direkte Maschinengewehrfeuer zu führen hatte, so ist nachher alles anders.“ Er hatte die Vision einer Welt aus Glas, in der jedermann augenblicklich zerstört werden könnte; gedankenlos oder wohlüber­legt, in jedem Falle aber irreparabel. Es fand sich keine literarische Tech­nik, um dieser Vision Ausdruck zu verleihen. Chandler verbrachte fünf­zehn Jahre – die besten Jahre im Leben eines Mannes – im Öl-Spiel, ehe der Dämon (oder Schutzengel) der Kunst wieder zupackte. Typi­scherweise zeigten die ersten Symptome krankhafte Formen; er wurde Alkoholiker und schien sich ganz dieser Laufbahn verschrie­ben zu haben. MacShane lässt deut­lich genug erkennen, dass man Chandler aufgrund seiner ausge­zeichneten Verdienste sehr viel Ver­ständnis entgegenbrachte, ehe die Geduld der übrigen Geschäftsleitung sich erschöpfte. Er wurde erst nach mehreren gewaltigen Sauftouren hinausgeworfen, nach deren Verlauf er wochenlang betrunken war und dem Arbeitsplatz fern blieb.

Im Alter von 45 Jahren, mit einer eingebildeten und kostspieligen Frau, ohne Job und mit schwer­wiegendem Alkoholismus belastet, blieb Chandler nur noch die Flucht nach vorn übrig. Er hörte auf zu trinken und begann erneut zu schrei­ben; einige Jahre später hatte er jene einmalige literarische Form gefun­den, die nur ihm allein zugeschrieben werden kann, obwohl sie – mit Aus­nahme derjenigen Hemingways – die wohl meistimitierte Technik darstellt. Es handelte sich um eine Art Detektivgeschichte, die es bis anhin nicht gegeben hatte, nicht einmal in den bitteren und bluttrie­fenden Erzählungen eines Dashiel Hammett; einige Puristen auf dem Gebiet der logisch-deduktiven Er­zählweise behaupteten sogar, dass es überhaupt gar keine Detektivge­schichte sei.

Was Chandler erfunden hatte, ist ­wie Edmund Wilson als erster fest­stellte – verwandt mit den Spionage­geschichten von Eric Ambler und Graham Greene, in denen es sich nicht bloß um ein zusammenge­setztes Puzzle handelt, bei dem – zum Unbehagen des Lesers der Schrecken heimlicher Verschwörung in äußerst unterschiedlichen und un­wahrscheinlichen Formen auftritt. Lebewohl, mein Liebling – ein ro­mantischer Titel zu einer schrecklichen Geschichte – beginnt mit einem anscheinend sinnlosen Mord im schwarzen Ghetto von Los Angeles; mit den Untersuchungen Marlowes wird der Leser Schritt für Schritt in alle Aspekte südkaliforni­schen Lebens eingeführt. Von den Villen der Superreichen zu den Mafia-Casinos; die heimliche Ver­schwörung ist überall. Chandler hat im Öl-Business viel gelernt, und jenes Band, das von den Reichen mit guten Umgangsformen und Feinge­fühl hinunter führt zu korrupten Politikern, unehrlichen Polizisten, ausgemachten Strolchen und Psycho­paten, wird mit einer peinlichen Ge­nauigkeit nachgezeichnet, die den Stil gewisser Zeitungsbeiträge vor­wegnimmt, die erst dreißig Jahre nach Chandlers ersten Romanen erschienen sind. Seine Welt sind die klaustraphoben Landschaften eines Ambler und Greene. An jedem andern Ort außer Los Angeles wäre dies ein Produkt paranoider Phanta­sie; hier aber ist es bloß eine natura­listische Erzählweise, wie sie ein John O‘ Hara nicht kühler aufs Papier gebracht hätte.

Verglichen mit Chandler sind Ambler und Greene verhältnismäßig humorlose Schriftsteller; es blieb Chandlers Genie vorbehalten, diese Stadt so grotesk und ironisch darzu­stellen, dass er tatsächlich den modernen schwarzen Humor dreißig Jahre vor Lenny Bruce, Joseph Heller, William S. Burroughs, Kurt Vonnegut Jr. – und wer immer auch Illuminatus! geschrieben haben mag – erfunden hatte.

Wie Chandler einst im Atlantic Monthly geschrieben hatte, ist „Mord die Frustration des Einzelnen und folglich die Frustration des Menschen im allgemeinen, was in der Tat einen großen Teil soziologischer Folgerungen in sich tragen mag“. Dazu lässt sich nur mehr bemerken, dass es bestimmte Gründe gibt ­welche die meisten von uns lieber nicht kennen, warum in Amerika alle vierzehn Minuten ein Mord geschieht, während Schweden kaum je eine Gewalttat zu verzeichnen hat. Das Aufdecken dieser Gründe, die Frustrationen unserer Kultur, wie sie am Beispiel von Los Angeles über­deutlich gezeigt werden, sind die wahren Hintergründe von Chandlers Romanen. Seine Verachtung für jene Detektivgeschichten, die nach der Art eines Puzzles aufgebaut sind, beruht auf der Tatsache, dass es sich dabei nur um ein Puzzle handelt, das alle Folgerungen außer Acht lässt. Wie er sagte, zogen es die Autoren vor, den „Mord als Akt endloser Grausamkeit“ zu vergessen.

Was die Funktion des Humors in seinem Werk betrifft, so fügte Chandler hinzu: „Es wirkt nicht belustigend, dass ein Mann getötet werden soll, aber es ist gelegentlich amüsant, dass er für so wenig sterben und sein Tod von dem geprägt sein soll, was wir als Zivilisation bezeich­nen.“ Wenn man schließlich die Verschwörung in Die kleine Schwe­ster – ein weiterer, trügerisch beruhi­gender Titel für eine blutige Horror-Geschichte – entwirrt hat, so führt die versteckte Ver­schwörung in eines der großen Studios, wo man mittels eines Anschlags den Ruf einer erfolgsver­sprechenden Schauspielerin zu schützen sucht. Man trifft auf die Entscheidungen eines exzentrischen Produzenten, der seinen Hunden im Büro zu pissen erlaubt, obwohl sich seine Sekretärinnen davor ekeln. Er kann seine Hunde im Büro pissen lassen, da er das Geld und die Macht besitzt, alles zu tun, was ihm passt. Eine Satire, die genau ins Schwarze trifft; man denke nur an die Karriere von Howard Hughes.

Die Bemerkung, dass der Humor in Chandlers brutalen Stories auf dem berühmten Chandler-Stil beruhe, ist recht abgedroschen. Dieser Stil ist indessen nicht bloß komisch; er kann von fernöstlicher Dichtung geprägter Schönheit sein, so dass er in seinen besten Momenten alles ausdrücken kann. Das emotionell Packende in Chandlers Büchern liegt auf einem Gebiet, das von den Kritikern nicht sonderlich beachtet worden ist: seine Fähigkeit, physiologische Empfindungen (neurologische Nuancen) wiederzu­geben, die von den meisten Schrift­stellern als mit Worten nicht ausdrückbar vermieden worden sind. Auf irgendeine Weise fand Chandler Worte für die verschiedenen Stadien von Halluzi­nationen und Schmerz, die Marlowe beim langsamen Wiedergewinnen des Bewusstseins empfindet, nachdem man ihn k.o. geschlagen hatte; für die grässliche Stille eines Raumes, nachdem man dort auf einen Toten gestoßen ist; für Drogen-Trips, wie sie nicht einmal von den Psychedelic­-Schriftstellern der sechziger Jahre präziser beschrieben worden sind; für die unerträgliche Langeweile und die plötzlichen Momente des Schreckens, die das tägliche Leben eines Detektivs bestimmen. Soge­nanntes amerikanisches Englisch ­ein milder Ausdruck für Unterwelt-­ und Showbusiness-Slang vermischt sich mit klassischem Englisch und bildet eine der echtesten Synthesen volksnaher und elitärer Kunst, die Amerika je gesehen hat.

Es ist eben ein Axiom der höheren Literaturkritik, dass der Stil dem jeweiligen Gegenstand angepasst sein sollte; Chandler trifft dies mit einer solchen Leichtigkeit, dass er sich kaum darum zu bemühen scheint. Wenn er Los Angeles als großes Warenhaus mit der Persönlichkeit eines Papierbechers beschreibt, so ist er auf seine Art so präzise wie Ezra Pound. Die Bezeichnung Waren­haus trifft den Kommerzialismus und das entsetzliche Ineinander­schachteln von L.A. aufs beste; der Papierbecher ist ein Emblem der Massenproduktion und des schnellen Verbrauches, wie es auch der phanta­sievollste Dichter nicht besser ausdrücken könnte. Wenn die Leute überall erstochen, erschossen, nie­dergeschlagen und verraten werden, so kommt der semantisch wohlüberlegte Stil (Humor am falschen Ort, Schönheit, wenn man sie am wenigsten erwartet, ununter­brochener Wechsel zwischen Slums und Herrenhäusern, von schmutzi­gen Polizeiräumen zu den blühenden Jacarandabäumen in Laurel Canyon) einer Montage aus dem Verlorenen Paradies gleich;  einer Welt, die unsagbar schön sein könnte, wenn darin die Macht nicht unbarmherzig missbraucht würde.

Chandler schrieb einst: „In allem, was man als Kunst bezeichnen kann, steckt die Eigenschaft des Erlösens.“ In seinen Romanen wird dies durch die persönliche Ehre seines Helden Philip Marlowe zum Ausdruck gebracht; sie ist jedoch nur deshalb rührend, überzeugend und vorbild­lich, weil Chandler selbst an die Grundsätze geglaubt und danach gehandelt hat. Die bezeichnendste Geschichte in MacShanes Biographie handelt von Chandlers Zorn, als ihm ein leitender Angestellter der Para­mount einen Bonus von fünftausend Dollar anbot, falls er ein Drehbuch rechtzeitig abliefern würde. Da Chandler sich vertraglich zur recht­zeitigen Lieferung des Drehbuchs verpflichtet hatte, erschien ihm der Bonus als Beleidigung. Ein ehrenwer­ter Mann hält sich an seine Abma­chungen; er lehnte den Bonus be­fremdet ab. Wir finden hier eine exakte Parallele zu jenen Fällen, in denen Marlowe die Bezahlung eines Kunden ablehnt oder zurückgibt, da er die ihm gestellte Aufgabe nicht sachgemäß lösen konnte; Szenen, die dem durchschnittlichen Leser in diesem zynischen und schweinischen Jahrzehnt vielleicht unmöglich erscheinen. Solche Szenen altmodi­scher Moral sind von unveränder­licher Kraft, weil sie die einzige Ingredienz enthalten, die kein Schriftsteller vortäuschen kann: absolute Aufrichtigkeit.

Chandler legte seinen Detektiv ­Stories nicht nur Stil, Humor und soziologische Tiefe bei, sondern auch sein eigenes Empfinden in Bezug auf die geheimnisvolle Psychologie des Muts; etwas, das keiner jemals völlig beseitigen oder verlieren kann. Die acht oder neun Anfänge von Humor in seinen Büchern liegen in Marlowes stetem Bewusstsein, dass sein Mut möglicherweise gerade dann nicht vorhanden sein könnte, wenn er ihn brauchen würde. Zu wissen, dass wir in einer Welt leben, in der Mord einen Ausdruck der Zivilisation darstellt, heißt, wie ein Existentialist sein Dasein am Rande des Nichts zu verbringen. In den Fängen dieser großen Verletzlichkeit eine Philosophie des Muts aufzubau­en, heißt mit einem romantischen Mythos zu leben, der abrupt zusam­menfallen kann, wie bei Hemingway, der letztlich Selbstmord beging; an Mut, Ehrenhaftigkeit und noch weit altmodischere Tugenden zu glauben – ­Überzeugungen, die uns so rasch verlassen können wie der Hollywood-Agent den erfolglosen Star, heißt mitten in jener schwarzen Komödie zu leben, die Chandler wie kein zweiter Roman­schriftsteller unseres Jahrhunderts eingefangen hat.

Eine Umfrage in den Fünfziger Jahren hat gezeigt, dass nur zwei Künstler sowohl bei den Intellektuel­len als auch in weniger gebildeten Kreisen dieselbe Popularität genossen haben. Die eine dieser Per­sönlichkeiten war selbstredend Marilyn Monroe, die andere – ver­dientermaßen – Raymond Chandler. Seine Romane werden noch immer gedruckt, obwohl der älteste davon in den dreißiger Jahren, der jüngste in den Fünfziger Jahren handelt. Ihr Alterungsprozess scheint nur sehr oberflächlich stattgefunden zu haben, denn sie sind so aktuell wie die neueste Verschwörungstheorie. Wir leben immer noch in der von Chandler beschriebenen Welt, und er hat uns diesbezüglich viel zu lernen aufgegeben; wie man lacht und dabei ehrenwert und anständig bleibt.


Der goldene Friedhof — Raymond Chandler und die Poesie der Gewalt
von Robert Anton Wilson ist im Sphinx-Magazin, Ausgabe Nr. 6, im September 1979, im Original im City Miner, Ausgabe Nr. 10, 1978 erschienen.

Share