Dalis Uhren

Keine Fehlfunktion! Nummer Fünf lebt!
— Nummer Fünf

Ich bin keine Nummer! Ich bin ein freier Mann!
— Nummer Sechs

Einmal hat mich ein Meinungsforscher quantitativ zu be­stimmen versucht. Ich habe seine Leber mit ein paar Fa­vabohnen und einem großen Glas Amarone verspeist.
— Dr. Hannibal Lecter

Erste Perspektivenkategorie

Hol die Brechstange, Gloria.
— Rock’n’Roll Wrestling Women Versus the Aztec Ape

Obwohl die Dubliner behaupten, ein Mann aus Cork sei dasselbe wie ein Mann aus Keny, nur in menschlicher Form*, besteht Grund zu der Annahme, die Leute in Cork seien die irischsten und damit spitzfindigsten Menschen auf diesem Planeten. Schließlich war es ein Geschworenengremium in Cork, welches einst über einen Angeklag­ten befand, er sei „nicht schuldig, wenn er verspricht, es in dieser Stadt nicht noch einmal zu tun“.
*Dubliner behaupten auch, die Schubkarre sei erfunden worden, um den Leuten in Kerry den aufrechten Gang beizubringen. Andererseits behaupten die Leute in Kerry, man müsse, um die Verrückten Irlands hinter Gitter zu bringen, je ein Irren­haus in Belfast und Limerick errichten und dann noch ganz Dublin überdachen.

Am Rathaus von Cork befinden sich vier Uhren, wel­che auf die vier Stadtviertel hinabblicken. Alle vier gehen mit schöner Genauigkeit ungenau, um hier einmal einen sehr passenden irischen Scherz anzuwenden. Soll heißen, es kommt nie vor, dass auch nur zwei von ihnen dieselbe Minute anzeigen, und für gewöhnlich können sie sich noch nicht einmal auf die Stunde einigen. Einheimische nennen sie nur die vier Lügner.

Ein Besucher aus einem heidnischen, exotischen Land – möglicherweise England – kommentierte dies ein­mal so: „Wie typisch irisch – nicht einmal die Uhren sind sich einig!“

Ein Mann aus Cork hatte diese Bemerkung mitange­hört und lieferte eine scharfsinnige Erklärung: „Ja, aber wenn alle vier sich einig wären, wären drei von ihnen doch überflüssig.“

Die Leute in Cork glauben alle, Zeit sei eine Erfindung der Engländer, mit der ein Mann auf arglistige Weise zu mehr Arbeit genötigt wird, als ihm im Grunde gut täte.

Und die einzigen irischen Philosophen von Welt­rang, Erigena und Berkeley, haben beide bestritten, dass so etwas wie Zeit überhaupt existiert.

Alle irischen Bullen sind trächtig.

Zweite Perspektivenkategorie

Tao fa tsu-jan.
— Laotse, Tao Te King

Es war der überaus ehrwürdige Fernsehevangelist Jowly Fallow*. der Simon den wandelnden Ausrutscher dazu in­spirierte, die Anti-Millennium-Organisation (AMO) ins Le­ben zu rufen.
*Reverend Fallow klärte seine vierzehn Millionen Zuschauer am Fernseher tag­täglich über finstere Machenschaften auf, wie etwa über die Tatsache, dass die Illuminati das Rockgeschäft kontrollierten, es sich bei sämtlichen UFOs um ge­tarnte Dämonen handelte und alle Femimstinnen Hexen, Lesben und Kannibalen seien, die geheime satanische Rituale abhielten.

Keiner der beiden ahnte etwas von den hochentwickelten Insektoiden Intelligenzen und dem verrückten Araber, die ihnen in ihre jeweiligen Vorhaben pfuschen und dabei versehentlich Millionen von Men­schen ins große blaue Nichts befördern würden.

Simon begründete den Antimillenialismus am 3. Ab­solu 124 EP*, als Fallows Anhänger und alle möglichen Arten von Christen und New-Age-Jüngern gerade mit den Vorbereitungen für eine Jahrtausendwende begannen, die ihren Behauptungen zufolge in nur zwei Jahren, drei Monaten und neunzehn Tagen stattfinden würde.
*Era Pataphysique. Simen war zur Pataphysik bekehrt worden, als er heraus­fand, dass Altred Jarry, ihr Begründer, an dem Datum zur Welt kam, das nach dem heidnischen System der 8. September (i873) genannt wurde. Da der 8. Septem­ber zugleich der Geburtstag der Jungfrau Maria nach vatikanischem Mythos wie auch der Molly Blooms nach Joyceschem Mythos ist, erkannte Simon die Syn­chronizität und fühlte sich dadurch auf der Stelle angezogen. Es war aber Pro­fessor Timothy F. X. Finnegans Erweiterung von Jarrys Pataphysik zur Patapsy­chologie, die Simon wirklich in ihren Bann schlug, wie wir noch sehen werden. (Der 8. September des alten Systems ist im pataphysischen System selbstver­ständlich der i. Absolu.)

Simon der wandelnde Ausrutscher hingegen meinte, ihre ver­flixte Jahrtausendwende komme erst in drei Jahren, drei Monaten und neunzehn Tagen, was beweise, dass sie nicht zählen könnten, und im übrigen fände die wahre Jahrtausendwende, die allererste, erst in über achthundert Jahren statt.

Simon glaubte, dass Pataphysik die Wissenschaft sei und der pataphysische Kalender mithin auch der Kalen­der. Genau wie alle übrigen Wissenschaften sich mit dem Allgemeinen befassen, während die Pataphysik die Aus­nahmen behandelt, ist der pataphysische Kalender der einzige, in dem es jeden Monat einen Freitag den 13. gibt, damit die Menschen nicht allzu leichtsinnig wer­den.

Simon der wandelnde Ausrutscher war nicht der Sohn von Mr. und Mrs. Wandelnder Ausrutscher, müssen Sie wissen. Seine Eltern waren Tim und Molly Moon, die für ihren Nachnamen die Schreibweise Muadhen beibe­halten hätten, wenn sie in Cork geblieben wären, aber in den Vereinigten Staaten neigten die Leute dazu, diesen vornehmen alten keltischen Namen auszusprechen wie Mudhen, was Moorhuhn bedeutet, und so entschieden Tims Eltern sich für eine mehr phonetische Schreibweise. Simon, der in allen Dingen zu zwanghafter Genauigkeit neigte, kannte sich mit gälischer Etymologie so gut aus, dass er die Schreibweise Mo’on als korrektere Form an­sah, aber Amerikaner können Hauchlaute nicht besonders gut aussprechen, und so blieb es also bei Moon.

Im Grunde machte es auch keinen Unterschied, denn alle seine Freunde nannten ihn ohnehin nur den wandelnden Ausrutscher. „Da kommt Simon der wandelnde Ausrutscher“, sagten sie. Oder: „Wer lauert denn dort wie der Kuss des Todes? Ist das nicht Simon der wandelnde Ausrutscher?“ Oder: „Bringt eure Harddiscs in Sicherheit, Jungs – Simon der wandelnde Ausrutscher befindet sich im Gebäude.“

Diesen Ruf hatte Simon sich durch seine Arbeit in Belangen des Pataspace erworben, den er sich erfand, nachdem er alle Möglichkeiten von Cyberspace und Cryp­tospace ausgeschöpft hatte.

Der Cyberspace war jedermann zugänglich, der ei­nen Computer besaß, in den Cryptospace aber, wo sich der wirkliche Spaß abspielte, gelangten nur jene, die über die für die jeweilige Woche erforderlichen PCP-Varianten verfügten: die wahren Unterirdischen und Höhlenmen­schen von der nächtlichen Seite des Cyberpunk*.
*Der Encyclopedia of Social lnventions, Institute of Social Inventions, London, 1990 zufolge nahm die erste nichtzinsorientierte Währung ihren Ausgang um 1982 herum in einer Sektion des Cryptospace zwischen Vancouver, Kanada und San Diego, USA. Bei einer solchen Währung ist keine Zahlung von Zinsen an Banken erforderlich, und sie bleibt auch den Augen der Steuerfahndung verbor­gen. Wie T. C. May schreibt: „Eine starke Kryptographie, beispielsweise RSA (ein öffentlicher Schlüsselalgorithmus) oder PGP (pretty good privacy, d. h. ziemlich hohe Geheimhaltung), sorgt für eine Verschlüsselung, die im wesentlichen nicht zu knacken ist, nicht einmal unter Zuhilfenahme sämtlicher Rechner des Univer­sums …“ – tc may@netcom.com.

Pata­space, wie der normale Cyberspace, stand jedermann of­fen – verständlich aber war er nur jenen, die Vollständig Erleuchtet waren, das heißt Simon und den übrigen elf Mitgliedern der Gesellschaft der Unsichtbaren Hand*.
* Die Gesellschaft der Unsichtbaren Hand stützte sich auf Adam Smith‘ Doktrin, eine unsichtbare Hand steuere alle freien Märkte, und auf Prof. Timothy F. X. Fin­negans Ergänzung, selbst noch auf unfreien Märkten (solchen, wo Regierungen Einfluss nehmen oder Monopole, Verschwörungen, Korruption usw. die Bedin­gungen verzerren) herrsche die unsichtbare Hand. „Wovon man abweichen kann, ist nicht das Tao; was man verletzen kann, ist nicht das Naturgesetz; was man verfälschen kann, ist nicht die unsichtbare Hand.“ – Finnegan, Alptraum und Erwachen. Royal Patapsychological lnstitute.

Im Grunde war Simon, obwohl er große Ähnlichkeit mit einem Yeti aufwies, ein sanftes Gemüt. Hätte er je seine in den Sechzigern empfangene Prägung überwun­den und sich einmal die Haare schneiden lassen, hätte er vermutlich ausgesehen wie jeder andere mittlere Ange­stellte mittleren Alters im Silicon Valley. Seine pataphysi­schen Ausrutscher fügten anderen nie Schaden zu (was das betraf, war er extrem behutsam): sie hinterließen le­diglich eine Aura undurchdringlichen Geheimnisses und legten die undeutliche Vermutung nahe, nicht-menschli­che, womöglich gar außerirdische, Intelligenzen seien in das Netz eingedrungen.

Jene fortgeschrittenen Hacker, die von Simon und seinen Arbeiten wussten, debattierten stundenlang dar­über, welche Websites Simons Werk waren, welche von Nachahmern stammten, die seinen Stil imitierten, wel­che auf echte Verrückte zurückgingen und welche schließlich tatsächlich außerirdischen Ursprungs waren.

Wenn Sie jemals einen scheinbaren Virus hatten, der keinen wirklichen Schaden angerichtet hat und nur ab und zu ohne Vorwarnung auftauchte, um Sie aufzufor­dern, Lasagne zu den vom Hungertod bedrohten Aliens in Area 51 zu schicken, kann es sein – wohlgemerkt, kann es sein – dass Sie hier einer von Simons pataphysischen Inva­sionen des normalen Denkraums in die Quere gekom­men sind. Möglich, dass auch nur einer der üblichen Witz­bolde dahintersteckte – oder vielleicht waren es wirklich verhungernde Aliens da draußen, unter dem heißen Sand des Südwestens. Man kann nie wissen, was die CIA gerade ausheckt.

Dritte Perspektivenkategorie

In der Zukunft könnte es durchaus Computer geben, die weniger als 1,5 Tonnen wiegen.
— Popular Mechanics, 1949

Während seiner tragisch kurzen Laufbahn (sie dauerte nur zwölf Milliarden Jahre, und bis dahin waren seine be­sten Köpfe nach Zeta Reticuli abgewandert) hat der Planet Erde annäherend 845000 Tierarten hervorgebracht, was für einen so winzigen und kurzlebigen Planeten Durch­schnitt ist.

Zu den weniger zahlreichen Spezies gehörten die Amphibien, von denen es lediglich ungefähr 2100 (zwei­tausendeinhundert) verschiedene Arten gab, darunter Frösche, Kröten, Salamander, Molche, Grottenolme und andere quakende oder kriechende Kreaturen.

Erfreulicher ist die Bilanz bei den Säugetieren, denn hier brachte die Erde über 4500 (viertausendfünfhundert) Arten hervor, wie etwa den sehr beliebten Hund, die all­seits verhasste, aber unausrottbare Ratte, den tölpelhaf­ten Menschen, den imperialistischen Löwen, die wuseligen Wühlmäuse, die ruhigen Rinder, die klugen Pferde, die zottigen Bären, die sanften Suidea (darunter Haus­schweine, Wildschweine, diverse Familien distinguierter Schweinehunde und eine Reihe Polizeibeamte in Los An­geles), dazu noch Füchse, Dingos, Nilpferde und eine An­zahl im Wasser lebender Verwandter wie den Delphin, den Killerwal, den Pottwal, den zur Allegorie gewordenen Weißen Wal sowie den atemberaubend großen Blauwal.

Während einer besonders kreativen Anwandlung brachte die Erde außerdem mehr als 7000 (siebentau­send) Reptilienarten hervor, darunter den Brachiosaurus, den Stegosaurus, den Tyrannosaurus, das Krokodil, den Alligator, die Boa Constrictor, die Natter, die Klapper­schlange, die Königskobra, die Schwarze Mamba, die Viper und den Reverend Jowly Fallow.

Das Leben auf der Erde wies auch psychedelische und neosurrealistische oder „überschwengliche“ Varian­ten auf. Munter dahingaloppierend, brachte es über 9000 (neuntausend) Vogelarten hervor, die vom unglaublichen Pfau über das prächtige Rotkehlchen bis zum unschein­baren Spatzen alles umfassten, den Fink, den Eichelhäher, den Habicht, den Falken, die Seemöwe, das Moorhuhn (nie zu verwechseln mit dem Muadhen, einem Eingebore­nen Corks, der zwar ein etwas schräger Vogel sein mag, aber definitiv mehr menschlich als vogelartig ist) und den unerhörten Pelikan, dessen Schnabel ein größeres Fas­sungsvermögen hat als sein Magen, wie allen Studenten klassischer Dichtung wohlbekannt ist …

Nebenher kamen noch 21000 (einundzwanzigtau­send) Fischarten hinzu, von Hai und Lachs bis hin zum Guppy, Tintenfisch und Hummer.

Hauptsächlich aber schwallte sie wie in einem krea­tiven Delirium eine Überfülle von Insekten hervor -of­fensichtlich ihre liebste Erfindung – über 800000 (acht­hunderttausend) verschiedene Arten, von denen die meisten unterschiedliche Arten Käfer waren. Was bedeu­tet, dass von den 845000 (achthundertfünfundvierzigtau­send) Tierarten mehr als 800000 (achthunderttausend) Insekten waren.

Die Erde brachte auch ein üppiges Pflanzenreich hervor, das Paradiesvogelblumen und Kakteen umfasste, ferner gigantische Redwoodbäume, den heilige/heilen­de/Heiterkeit erregenden Hanf, Rosen, Veilchen, Chrys­anthemen, Fuchsien, Butterblümchen und Brokkoli. Dazu gesellte sich noch das Reich der Pilze.

Hauptsächlich jedoch kamen immer mehr und mehr Käfer hinzu, und mehr und mehr unterschiedliche Arten oder Unterarten von Käfern.

Die Erde schien von den Käfern einfach nicht genug zu bekommen. Man könnte sagen, der gesamte Planet war von einer akuten, unheilbaren Käfermanie befallen.*
* Manche Gelehrte betrachten die vorangegangenen zwölf Absatze als von Si­mon Moon und/oder seinen Mitverschwörern in der Gesellschaft von der Un­sichtbaren Hand initiierte Invasion aus dem Pataspace. Diese Theorie ist wahr­scheinlich bloß eine romantische Fiktion, genau wie der Bacon-Shakespeare­-Schlamassel.

Ein sehr kluges Säugetier namens Dr. J.B.S. Haldane – ein Primat und marxistischer Biologe, der kurioserweise je­den Tag Yogaübungen machte – wurde einmal gefragt, „Wenn Sie die Vorstellung einer übergeordneten Intelli­genz bejahen würden, die hinter der Evolution des Le­bens steckt, welche herausragende Eigenschaft würden Sie dieser Intelligenz dann zuschreiben?“

Dr. Haldane antwortete wie aus der Pistole geschos­sen: „Eine außerordentliche Liebe zu Käfern.“

Die Ameisen, die keinen Pfifferling um die Gedan­ken eines Säugetiers wie Haldane gaben und für Käfer noch weniger übrig hatten, hatten die Erde in der zwei­ten Hälfte ihrer Geschichte erobert.

Zumindest hatten sie diese Eroberung in der einzi­gen Zeitlinie durchgeführt, die sie kannten.

Vtttrl hatte den Großteil ihrer bescheidenen Exi­stenz als Arbeitsameise im Institut für Historische Kor­rekturen in Bqfsz zugebracht, aber ihr ganzes Leben lang war sie von einer seltsamen, arbeiterinnenuntypischen Sehnsucht nach einem Mehr an Wissen geplagt worden. Da allgegenwärtige Strahlung und die von ihr verursach­ten Mutationen aus ihrer Welt nicht wegzudenken wa­ren, wusste Vtttrl, dass sie wahrscheinlich ein paar ab­norme Gene hatte. Sie war also mit Defekten auf die Welt gekommen.

Manche Mutationen stellten natürlich Verbesserun­gen dar. Diese Denkweise aber war unbescheiden und asozial. Sie nahm sich hin, wie sie war, eine Perverse.

Das Institut für Historische Korrekturen, in dem sie arbeitete, wurde im Volksmund nur das Es-hat-nie-statt­gefunden-Ministerium genannt. Die Arbeiterinnen dort taten nichts anderes, als die Feineinstellung des Urknalls zu verbessern. Dazu benötigten sie weder Wurmlöcher noch Zeitreisen. Sie nutzten lediglich Qgwwkwes Anwen­dung von Adkks Theorem, welches anschaulich machte, dass, da alle nuklearen Systeme nicht-lokal miteinander in Korrelation stehen, jegliche nukleare Regulierung im Hier und Jetzt Auswirkungen auf das Dort und Dann hat ­wobei Nicht-Lokalität in diesem Falle besagt, dass Dort und Dann gleichzusetzen ist mit Egal wo und Egal wann. Unter Einsatz von Fukgiikwts Streckmuskeln konnte aus Egal wo und Egal wann ein vom Experimentierenden ge­nau zu bestimmendes Dort und Dann werden, sprich der Urknall.

„Mit dem Urknall hat alles angefangen“, lautete ein beliebter Gemeinplatz, wenn in einer populären Wissen­schaftssendung auf Antennavision das Gespräch auf die Arbeit des Instituts kam, „und wenn irgendwo irgend etwas schiefläuft muss man genau dort, am Anfang, an­setzen, um den Fehler zu beheben.“

Beinahe ihr ganzes Leben lang hatte Vtttrl dies als Glaubensartikel akzeptiert, nannte es jedoch Wissen­schaftliche Tatsache.

Vtttrl und die anderen riesigen Forsch-Ameisen neigten dazu, wie schon so manche frühere Spezies, ihre Glaubensartikel mit Wissenschaftlichen Tatsachen zu verwechseln. Einige von ihnen waren klug genug, dies zu erkennen, und so riefen sie ein Komitee zur Trennung der Glaubensartikel von den Wissenschaftlichen Tatsachen ins Leben. Unter idealen Bedingungen hätte diese bitter notwendige analytische Arbeit das Denken und Arbeiten jeder einzelnen Forsch-Ameise erhellen können.

Leider aber waren die Angehörigen des Komitees fest davon überzeugt, ihre eigenen Glaubensartikel seien die einzig wahren Wissenschaftlichen Tatsachen, und so fügten sie der allgemein herrschenden Verwirrung bloß zusätzliche Bitterkeit hinzu.

Vtttrl hatte diesem Komitee einst selbst angehört, bis sie erkannte, welche Irrtümer hier begangen wurden. Ihr Leben lang hatte sie die Irrtümer einer Gruppe von Forsch-Ameisen nach der anderen durchschaut. Der ein­zige Irrtum, den sie noch nicht durchschaut hatte, war der Irrtum, dem alle schwarzen Ameisen anhingen.

Dieser Irrtum besagte, die Welt wäre vollkommen, wenn erst alle roten Ameisen ausgerottet wären. Alle Ar­beit am Urknall – die endlosen Feineinstellungen im Ge­webe des Raum-Zeit-Gefüges – verfolgte einzig und allein das Ziel, Potenzen zu minimieren. Dies bedeutete, dass die Anzahl möglicher Universen begrenzt wurde, und weiter begrenzt, und weiter, und weiter … bis am Ende ein voll­kommenes Universum übrigbliebe, in dem es nirgendwo auch nur eine einzige rote Ameise gäbe.

Vtttrls Häresie und ihre Verbotenen Experimente nahmen ihren Ausgang, als sie eines Tages ausrechnete, wie viele Universen potentiell unmöglich gemacht wer­den mussten, bis jenes eine, vollkommene Universum auf­träte. Die Zahl schien höher zu sein als Xzbries erste Art von Unendlichkeit, höher auch als ihre zweite Art von Unendlichkeit … und, wie sich bei Vtttrls weiteren Be­rechnungen ergab, höher als jede Art von Unendlichkeit, die allen klugen Mathematik-Ameisen, die je gelebt hat­ten, bekannt (oder von ihnen erfunden worden?) war.

Keine endliche Anzahl von Feineinstellungen am Urknall, wie viele man auch vornehmen mochte, würde je ein vollständiges Universum ohne rote Ameisen her­vorbringen. Vtttrl hielt ihren Beweis noch einmal schwarz auf weiß fest, um ihre Berechnungen erneut zu prüfen. Das Ergebnis entsprach genau ihren vorangegan­genen Überlegungen. Nur eine unendliche Anzahl von Regulierungen, die einen unendlichen Zeitraum bean­spruchen würden, könnte diese verdammten Roten aus der Welt schaffen.

Vtttrl hatte einiges über die Verwechslung von Glau­bensartikeln mit Wissenschaftlichen Tatsachen gelernt, als sie noch an den Sitzungen teilnahm, wo man diese Un­terscheidung ohne weiteres festlegen zu können glaubte. Ihre Entdeckung verriet sie keiner ihrer Schwestern oder Mitarbeiterinnen. Sie vernichtete ihren schriftlich ge­führten Beweis. Heimlich aber dachte sie weiter ihre heimlichen Gedanken.

Am Ende wurde ihr klar, dass der Urknall zu weit zu­rücklag, um dort mit dem Prozess Historischer Korrektur anzusetzen. Sie begann also, das Zeitalter vor dem Her­aufdämmern der Geschichte zu studieren, das heißt vor der Verrückung.

Die beiden intelligenten Arten der Erde waren nach der Verrückung in Erscheinung getreten – sprich, die wei­sen und freundlichen schwarzen Ameisen, die sich ganz dem Frieden, der hohen Kunst und reinen Vernunft ver­schrieben hatten, und lediglich den Grund und Boden beanspruchten, der ihnen dem Naturgesetz nach zustand; und ihre erbitterten Feinde, die bösartigen roten Ameisen unter der Herrschaft einer verrückten Königin (mit „dik­tatorischen Machtgelüsten“), die es einzig auf Krieg abge­sehen hatten, vulgäre Kunst produzierten, abscheuli­chem Aberglauben anhingen und Land begehrten, das ih­nen dem Naturgesetz nach nicht zustand. Und die Verrückung war das Ergebnis der Weißen Dämmerung, welche sich aus den dummen Konflikten jener absurden, in zwei Geschlechter geschiedenen Säugetiere ergeben hatte, die einst diesen Planeten beherrschten.

Vtttrl widmete sich dem Studium der Archäologie mit größerem Eifer als je eine Ameise vor ihr. Am Ende konnte sie mit einiger Sicherheit die Schuld an der wei­ßen Dämmerung einer ganz bestimmten Gruppe unter ei­ner der auf obszöne Weise zweigeschlechtlichen Arten zuweisen.

Diese Gruppe wurde Christen genannt. Ohne zu wis­sen, dass alles durch Denken hervorgebracht wird und au­ßerhalb des Denkens nicht existiert, dachten sie viel über das Ende der Welt nach. Schlimmer noch, sie redeten dar­über, so dass andere Menschen darüber nachzudenken be­gannen. Mit ihren apokalyptischen Phantastereien hat­ten sie beinahe tatsächlich das Ende der Welt heraufbe­schworen, und daraus ergab sich schließlich die Verrüc­kung.

Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, um in die Vergangenheit zurückzureisen und jeden einzelnen dieser christlichen Schweinehunde aufzufressen.

Sie begann, die Literatur über Wurmlöcher zu stu­dieren. Theoretisch waren sie möglich, aber alle gelehr­ten Meinungen stimmten darin überein, dass es eine Quintillion (eine Milliarde Milliarde Milliarde Milliarde) Megaztuykkpz verschlingen würde, eines zu konstruie­ren; das Projekt würde außerdem einen Zeitraum von mindestens vierhundertsiebzig Jahrtausenden in An­spruch nehmen.

Sie wollte schon verzagen – aber das ging vorüber. Da sie absonderliche Gene hatte, heiterte ihr Gemüt sich immer sehr rasch auf, egal, was kam.

Vtttrl näherte sich ihrer bislang wildesten Ketzer­meinung. Da sie dahintergekommen war, dass es sich bei den meisten Wissenschaftlichen Tatsachen lediglich um Glaubensartikel handelte, beschloss sie, nachzuforschen, ob manche Glaubensartikel nicht in Wirklichkeit wissenschaftliche Tatsachen waren. Sie fing an, den vielgestalti­gen Aberglauben der dummen, brutalen Soldatenamei­sen zu studieren – riesige Grobiane, für die die Arbeiterin­nen nichts als Verachtung übrig hatten. Alle wussten, dass die Soldaten nur dazu gut waren, jedes Jahr Millionen und Abermillionen der verdammten roten Ameisen abzu­schlachten. Vtttrl begann, den Glauben der Soldaten­ameisen zu studieren, in dessen Mittelpunkt der Große Szn steht, welcher das Gleichgewicht aller Dinge be­wahrt, indem er das Universum in jeder Nanosekunde neu erschafft.

Ganze Jahre vergeudete sie mit Voraussagen, die nur zu ungefähr 50 Prozent zutrafen, mit Langlebigkeits­oukka, das ihr nichts als Reizbarkeit und Schlaflosigkeit bescherte, und dergleichen mehr Unfug. Zunehmend je­doch öffnete sich unter dem Einfluss der yspistischen Me­ditationen und Vergegenwärtigungen ihr Bewusstsein für Welten, die ebenso real schienen wie das Institut für Hi­storische Korrekturen – Welten voll säugetierischer Schrecknisse, voller Schönheit und Langeweile. Und schließlich begriff sie die großartige mystische Lehre, die dem Szn-Kult zugrunde lag. Vtttrl erkannte bald, dass diese Formel – das Cweaw am Anfang des uralten Szn Sd Bghmh – sie zu ihrem ureigenen geheimen Wurmloch füh­ren würde: „DER SZN, DER GEDACHT WERDEN KANN, IST NICHT DER WAHRE SZN.“

Sie durchschritt das Egal wo/Egal wann und begann mit der Suche nach dem richtigen Hier-Jetzt.
In dieser Entfernung hörte sie, undeutlich nur, eine Stimme, die sich über schmutzige Socken und Gebissge­ruch beklagte …

Fünfte Perspektivenkategorie

Diese Möhre, wie Sie es nennen, hat einen Flugkörper konstruiert, der in der Lage ist, Millionen von Meilen im Raum zurückzulegen, angetrieben von einer uns unbe­kannten Energie.
— Das Ding

„Und alle diese kindermordenden Abtreibungsbefürwor­ter und die Männer, die bei anderen Männern liegen, wie es der heilige Paulus nannte, und die UFO-Höllenkreatu­ren – und auch Hillary Clinton, rief Jowly Fallow erregt in die Fernsehkamera. „Sie alle werden sich noch umgucken, wenn der große Tag der Verrückung – ich meine na­türlich, der Tag der Verzückung …“

Simon Moon nahm einen tiefen Zug aus seiner Haschpfeife, grinste und schaltete mit der Fernbedienung auf den Playboy-Kanal um.

Die wechselseitige Durchdringung der Universen hatte begonnen … Das Anti-Millenialismus-Mem war im Begriff, den christlichen Realitätstunnel zu infiltrieren.

Sechste Perspektivenkategorie

Die Gottheit ist kein Dreigroschenfirlefanz.
— James Joyce

Als Abdel Rahman Massoud, der Direktor des Institutes für die Seriöse Erforschung Absurder Behauptungen, den Entschluss fasste, sich zweihundert Jahre in der Zeit zu­rückzuversetzen, vom sechzehnten Jahrhundert ins vier­zehnte, wusste er, dass dies vielleicht ein riesengroßer Fehler war.

Dennoch hatte er das Gefühl, seine Entscheidung sei unumgänglich. Er handelte in göttlichem Auftrag. Außer­dem tröstete er sich mit dem großartigen Zitat der Unaus­sprechlichen Ungläubigen, das er an die Wand in seinem Büro geheftet hatte:

SORGT EUCH NICHT UM DAS ENDE DER WELT: ALLAH IST CLEVER GENUG, EINE BACKUP DISC BEREITZUHALTEN.

Den Namen Allah hatte Abdel eingefügt. Die Ruchlose Un­gläubige hatte „Göttin“ gesagt, was nur eine ihrer zahllo­sen Häresien gewesen war.

Abdel seinerseits war kein ganz normaler Moslem seiner Zeit, was er aber zu keiner Zeit gewesen wäre. Er hatte die verbotenen Werke studiert, die auf Hassan i Sab­bah, Abdul Alhazred, den Edlen Drew Ali und Hakim Bey zurückgingen, und womöglich hatte er sie ein wenig zu eifrig studiert. Sogar wenn er schlief, sah er zuweilen die allerschockierendsten Sätze ihrer Werke vor seinen Au­gen herumtanzten: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“, „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: im Yog Sothoth sind alle eins“, „Lasst uns dieses Dope rauchen“, „Die Ket­ten des Gesetzes sind gesprengt“.

Hinzu kam, dass er an seiner Wand dieses ruchlose (wenn auch leicht gesäuberte) Plakat hängen hatte, mit einem Spruch der ungläubigen Philosophie – einer Frau! – jener berüchtigten Hexenkönigin, Lola von Capitola. Sie hatte vor zweihundert Jahren gelebt, zur Zeit des Großen Fehlers. Lola hatte in dem Jahrhundert gelebt, das Abdel das vierzehnte nannte* (das die nicht beschnittenen, wei­ßen euro-amerikanischen Hunde – die in den Weiten des Alls in ihren ungläubigen dar al-harb, oder auch Raumsta­tionen, dahinschwebten – immer noch das zwanzigste Jahrhundert nannten, obwohl sich unter ihnen keine Christen mehr befanden).
* Lola war tatsächlich 1358 AH geboren worden und verließ diese Welt erst 1393 AH. Sie flog in einem Raumschiff davon, das Sirius ansteuerte.

Abdel war auf seltsame Weise von Lola besessen. Sie schien etwas zu wissen, wovon nicht einmal Sabbah, Al­hazred, der Edle Drew Ali und Bey etwas ahnten. „Allah hat eine Backup Disc“: je mehr man darüber nachgrü­belte, desto weniger sicher war man sich, ob man es auch voll und ganz verstand. Fest aber stand, dass es sich alle­mal lohnte, verstanden zu werden.

Im Grunde hatte Abdel ohnehin jedes Vertrauen in die Mullahs verloren, die den dar al-Islam (ehemals: Planet Erde) beherrschten. Islamische Mullahs, fand er, glichen den Priestern aller anderen (und mithin minderen) Reli­gionen. Von Metaphysik hatten sie im Grunde nicht den blassesten Schimmer. Ja, die meisten von ihnen hielten sein Institut für die Seriöse Erforschung Absurder Be­hauptungen für eine Art faulen Sufi-Witz! Sie nannten Abdel sogar den „doofen Sufi“. Ihnen ging jedes Gespür für die kleinen Hinweise ab, die sich an ganz normalen, langweiligen Orten ebenso zeigten wie in den Weiten des Raumes selbst und die darauf hindeuteten, dass die Welt weitaus absurder war, als es ihnen in ihren frommen Köp­fen je dämmern mochte, Faktoren, die sich auf synergeti­sche Weise zu einem Phänomen zusammenaddierten, das Abdel nur den Kosmischen Kicherfaktor nannte.

Abdel hatte sich ein Wurmloch konstruiert – eine simple Methode, zwei schwarze Löcher miteinander zu verknüpfen, was er mit Hilfe einer Anfängerkonstruktion bewerkstelligte, die er im Erector-Baukasten des dritten Sohnes seiner zweiten Frau gefunden hatte. Derartige Spielzeuge waren heutzutage gang und gäbe, aber die Mullahs sagten, man solle sie nur dazu benutzen, um ei­nen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen. Keines­falls solle man ein Wurmloch dazu missbrauchen, die Ver­gangenheit zu ändern.

Schlimmer noch: die Mullahs hatten ihre Auffassun­gen zu dieser Angelegenheit im Gesetzbuch niedergelegt. Was Abdel vorhatte, stellte ein Kapitalverbrechen dar, welches mit der schlimmsten Strafe geahndet wurde, die in der gegenwärtigen Rechtsprechung vorgesehen war ­der Wahl zwischen Wahnsinn und Selbstmord. Die­jenigen, die zu dieser Höchststrafe verurteilt wurden, erhielten eine Schachtel mit einer Zyankalikapsel ausge­händigt und wurden lebenslänglich in eine kleine Zelle gesperrt, in dem auf einem Fernseher vierundzwanzig Stunden am Tag Videoaufzeichnungen des ollen Jowly Fallow liefen. Nahezu alle zu dieser Strafe verdonnerten armen Teufel schluckten noch vor Ablauf des ersten Jah­res die Giftkapsel.

Die Mullahs wollten, dass die Wurmlöcher von den Menschen wie bloße Fernsehvorrichtungen genutzt wur­den, zum Anschauungsunterricht im Fach Geschichte. Bei dem bloßen Gedanken daran musste Abdel bereits mit den Zähnen knirschen. Im gesamten Stadtgebiet von Los Angeles – vom wohlhabenden Santa Barbara im Norden bis hin zum heruntergekommenen Phoenix im Osten ­gab es mehr großartige islamische Gelehrte, als je in der Geschichte von dar al-Islam an einem einzigen Ort gelebt hatten. Und nicht einer von ihnen wagte es, den Mullahs den Gehorsam zu verweigern, in eines dieser verdamm­ten Wurmlöcher zu tauchen und die Vergangenheit tat­sächlich zu verändern. Die Vergangenheit konnte, sollte und würde nicht verändert werden, verkündeten die Mul­lahs, weil Allah selbst sie so festgelegt und niederge­schrieben habe.

Religiöse Konservative, dachte Abdel verbittert, sind überall gleich. Keiner von ihnen erkennt, dass Allah clever genug ist, mehr als eine Backup Disc in petto zu haben … und dass Er weiß, wann es an der Zeit ist, Sachen in die Ab­teilung zu schicken, wo sie umgeschrieben werden.

Wahrscheinlich weiß Er sogar, wann es an der Zeit ist, gewisse Dinge in die Es-hat-nie-stattgefunden-Abtei­lung zu schicken.

Abdel war bereit; sein Entschluss stand felsenfest. Nun würde er nicht länger zögern. Er würde das Wurm­loch öffnen, bis an die Stelle in der Zeit zurückreisen, wo die Geschichte eine Falsche Abzweigung genommen hatte, Jowly Fallow, diesen Großen Shaitan, der alles rui­niert hatte, töten, und in eine Welt zurückkehren, die nach Maßgabe aller Logik sehr anders und sehr viel bes­ser wäre als die, aus der er gekommen war.

Er flick-klickte die positronischen Elektroframmis, prüfte ein letztes Mal den Quark-Compactor am Neuro­franz, öffnete den Finagle-Anschluss zum Sub-Space und trat todesmutig in das Wurmloch.

Das erste, was er dort erblickte, war eine riesige schwarze Ameise von der Größe eines ausgewachsenen Nashornbullen.

Die Ameise sah Abdel ebenfalls und richtete in peni­blem, fast gestelztem Arabisch das Wort an ihn: „Oh, du verachtenswert nichtswürdiges Molekül Kamelmist, was hast du in meinem Wurmloch verloren?“

Siebte Perspektivenkategorie

Orson Welles trug keine Angorapullover!
— Ed Wood

„Nun, ich bin Thelemit“, erläuterte Mavis Celin. „Um Mit­temacht beginnt für mich das neue Jahr 97 n. H.“

„Das heißt nach Horus, nehme ich an?“ erkundigte sich Simon höflich.

„Hoor-par-Kraat, oder Harpokrates“, sagte Mavis. „Ich zähle mich zu den reformierten Thelemiten.“

Die Fete der Antimillenialisten war in vollem Gange, es war gerade elf Uhr durch, und alle freuten sich auf den Nicht-Anbruch des neuen Jahrtausends, der nun bloß noch eine knappe Stunde entfernt war. Simon hatte sogar seine Bude umdekoriert und an der Wand zum Meer hin eine Re­produktion von Dalis Die Beständigkeit der Erinnerung aufge­hängt, auf der zerfließende Uhren stumm ihr Veto gegen starre Systeme aller Art demonstrierten.

„Für uns“, erzählte Juan Tootreegro Marvin Gardens gerade am anderen Ende des Zimmers, „wechselt das Jahr am 31. Oktober. Das Jahr 79 endete am letzten 30. Oktober, und das neue Jahr, 80 psU, beginnt um Mitternacht in zehn Monaten, wenn der 30. Oktober wieder in den 31. Oktober übergeht.“ Marvins Verwirrung war ihm nicht entgangen, und so fügte er rasch hinzu: „Wir datieren alles psU. Das be­deutet post scriptum Ulysses, weil Joyce den letzten Satz des Guten Buches am 30. Oktober 1921 geschrieben und damit das christliche Zeitalter beendet hat.“

Über den beiden ragte die an einen Wal erinnernde, massige Gestalt Blake Williams auf. „Also haben Sie noch 920 Jahre Zeit, bevor das erste Jahrtausend endet?“ fragte er und machte sich dabei Notizen. (Er hatte die neurose­mantische Topologie erfunden und recherchierte gerade für einen Artikel.) „Die einzige Gruppe, die noch länger warten muss, sind die Pataphysiker, deren Zeitrechnung im Jahr 1873 e.v. beginnt.“

Neben der Terrassentür erklärte ein kleiner Mann namens Ginsberg gerade Carol Christmas: „Zu dieser Party bin ich bloß gekommen, weil die Jahrtausendwende heute Nacht auch nicht die meine ist. Allerdings war ich nicht darauf gefasst, dass hier so viele schräge Typen herumlungern würden …“

„Und wie viele Jahre dauert es noch bis zu Ihrer Jahr­tausendwende?“ fragte Carol voll herzlichem Interesse, damit er sich ein wenig entspannte. Vertraulich neigte sich ihr blonder Kopf vor.

„Öh, ja, die nächste Jahrtausendwende, hm, 6000 also für die Orthodoxen wie mich, liegt noch, äh, o ja, 239 Jahre entfernt“, überschlug Ginsberg rasch, den die herandrängende Beharrlichkeit einer ziemlichen Masse von Brustgewebe etwas aus der Fassung brachte. „Ortho­doxe Juden, heißt das“, fügte er hinzu, da er sich nicht si­cher war, dass sie diesen Teil richtig verstanden hatte.

Simon der wandelnde Ausrutscher spazierte herum und verteilte LSD auf Löschpapier an alle, die wollten.

„Daten? Himmel, Daten sind mir völlig schnuppe. Das Universum hat doch wohl keine einzige Große Uhr, oder? Was mich interessiert, sind die Funde, die ich auf dem Mars gemacht habe, als ich das Gesicht einer Com­puteranalyse unterzog.“

Simon erkannte die Stimme – Professor Timothy F. X. Finnegan, der Mann, der ihn zur Patapsychologie und dann zur Pataphysik bekehrt hatte.*
* Professor Finnegan begründete nicht bloß die Wissenschaft von der Patapsy­chologie (das Studium verwirrender, aber ungewisser mentaler Vorkommnisse, die am nächsten Morgen um sechs Ohr nicht mehr nachvollziehbar, ja sogar nicht einmal mehr erinnerlich sind), rief auch das KSESON ins Leben, das Komitee zur Surrealistischen Erforschung der sogenannten Normalität. Das KSESON stellte die Behauptung auf, keine Person, kein Ort oder Geschehnis sei je in jeder Hin­sicht vollkommen normal, oder auch nur durchschnittlich, und dass diejenigen, die an „normale Geschehnisse“ glaubten, im Grunde an Gespenster (Abstraktio­nen) glaubten. „So etwas wie einen normalen Europäer, einen normalen Hund, einen durchschnittlichen Sonnenuntergang oder auch nur eine stinknormale Beethoven-Sinfonie gibt es nicht“, schrieb Finnegan in seinem Werk Das Leben nach dem Leben.

„Das Gesicht auf der Marsoberfläche?“ Mavis Celine hegte offenbar Zweifel. „hätte sich bei genauerer Analyse als eine bloße Ansammlung von Felsen und Schatten entpuppt.“

„Ha!“ schnaubte Finnegan und reichte das Kokain weiter. „Mit Hilfe holistischer Computervergrößerung“, fuhr er gravitätisch fort, „habe ich das Gesicht eindeutig als Moses Horwitz identifiziert! Der einzige Mann, der gleich auf zwei verschiedenen Planeten geehrt wird. Jesus steh mir bei, wenn das kein tüchtiger Tritt in den Hin­tern des wissenschaftlichen und theologischen Establish­ments ist!“

„Moses wer?“ fragten jetzt mindestens fünf Stimmen auf einmal; im selben Moment aber sagte Mamie van Do­ren ganz deutlich: „Schmutzige Socken und Gebissge­ruch.“

Wann zum Henker war sie denn hier aufgekreuzt, fragte Simon sich ein wenig beunruhigt, und worüber, in drei Teufels Namen, redete sie da?*
* Obwohl die Identität von Moses Herwitz bisher noch nicht geklärt werden konnte (und die Herausgeber sehr froh wären, wenn ihnen jemand in dieser An­gelegenheit mit Informationen dienen könnte), lässt sich Miss van Dorens Bemer­kung zurückverfolgen bis zu einem Kommentar, den sie nach ihrer Affäre mit Henry Kissinger abgab: „Ich erinnere mich nur noch an schmutzige Socken und Gebissgeruch.“

Dann aber verwirrten ihn die Straßen von Sandy­cove im Jahr 1904 noch mehr. Die Mischung von Pferde­kutschen und vereinzelten „Automobilen“ schien noch ganz normal für jene Zeit-Raum-Kategorie, aber die Leute sahen nicht sehr irisch aus. Bei den meisten handelte es sich um arabische Strichjungen, und er wurde dreiund­zwanzigmal angesprochen, bis er die Straßenecke er­reichte, an der er die Straßenbahn besteigen konnte, die ihn in die Innenstadt von Dublin beförderte.

„– mit seinem Bruder Jerome, verstehen Sie, und ei­nem Freund namens Lawrence Finestein –“

„Das Subliminale Syndikat so bleich wie sein Hemd … schmutzige Socken für unsere irischen Poeten –“ In der Nähe erklangen Flöten und Panflöten … Wermut, zu lange in der Sonne …

Die Straßenbahn wurde von einem gigantischen schwarzen Tausendfüßler gezogen. Die Fahrerin, Ma­donna in einem ihrer spitz zulaufenden BHs und einem Ballettröckchen über Militärstiefeln, hatte neben sich ei­nen Flammenwerfer stehen, den sie mehrfach einsetzen musste, um dem Tausendfüßler eine feurige Warnung über den Kopf zu schicken, wenn er, offenbar hungrig, nach vorbeigehenden Jesuiten und Mugwumps schnappte.

„Ich hasse Pleonasmen“, seufzte Simon Moon bekümmert, „aber wo zum Seitensprung bin ich hier?“ Er wusste, dass er vor einem Weilchen LSD genommen hatte, aber dies hier war anders als jeder Trip, den er je erlebt hatte.

„Lassen Sie es mich erklären“, sagte die große rote Ameise – sie war ungefähr so groß wie ein Greyhound­-Bus –, „wir haben Sie durch ein Wurmloch gezerrt. Sie und Ihre Uneinigen Freunde pfuschen am Dreh-und An­gelpunkt der Geschichte herum und helfen so den Bösen Schwarzen Ameisen. Ich werde Ihnen die fürchterliche Wahrheit auf gut Englisch, Ihrer eigenen Sprache, verra­ten.“ (Dies war ein Irrtum: Simon betrachtete immer noch das Gälische als seine „eigene“ Sprache und Eng­lisch als die Sprache der angelsächsischen Eindringlinge.)

„Ja, und?“ sagte Simon erwartungsvoll. Die Ameise verzog nachdenklich das Gesicht (soweit Simon das beur­teilen konnte, denn mit der Mimik von Insekten kannte er sich nicht aus).

„Es ist seit alter Zeit als Schwimmen-zwei-Vögel be­kannt“, fuhr die Ameise in rudimentärem Gälisch aus dem West County Irlands fort, „und ich war ein blo­ßer Knabe, als ich es erlernte – Gott und Maria und Patrick und Bridget seien gepriesen –“ (Sie kann Gedan­ken lesen, dachte Simon) –, „dass die Ameise weder der erste noch der letzte Beherrscher der Erde ist. Wir wis­sen über euch und eure seltsame, ein wenig alberne, zweigeschlechtliche Kultur Bescheid. Wir haben euch mit unserem gewaltigen, kühlen und unbeteiligten In­tellekt studiert. Wir kennen euch, wie die Nase die Rose kennt und die Rose die Nase kennt.“ (Schwierigkeiten mit dem gälischen Satzbau ruft bei Nicht-Muttersprach­lern häufig derartige Wirkungen hervor, erinnerte Si­mon sich.)

„Wegen eurer erisianischen Einmischung in den Fä­cher des fächerförmigen Schicksals“, sagte die Ameise und kam allmählich zur Sache, „entstand ein Vollkom­men Verkehrtes Universum. Es enthielt eine überaus un­selige Spezies – große, durch und durch bösartige schwarze Ameisen unter Führung einer verrückten Köni­gin mit diktatorischen Machtgelüsten. Sie sind ohne Lo­gik und abergläubisch und zurückgeblieben und, a chara, auf gut irisch, Mann, sie gehen einem tierisch auf den Sack. Ich habe ein Wurmloch konstruiert, um ihre Zeit­linie aus den potentiellen Energiekategorien zu eliminie­ren. Und Sie stören mich, weil Sie pataphysische Mome aussenden, die hinter den christlichen Memen her sind.“

„Das Mom, das mehr raffen kann als ich, muss erst noch geboren werden“, protestierte Simon.

Eine ungeheure schwarze Pfote krachte durch den Fußboden und griff sich Ingrid Bergman, die eben noch zwischen Bogart und Henreid gestanden hatte. Ganz kurz tauchte der pongoide Kopf auf, funkelte Simon an und tobte: „Jetzt sieh dir an, wozu du mich gebracht hast!“ Dann verschwand er wieder im Loch, hinab zum Zentrum der Rauchschwaden.

„Aber was habe ich mit all dem zu schaffen?“ wandte Simon ein.

Keiner der Mugwumps antwortete. Sie spazierten alle nackt durch die Straßen von Berlin, ihre Haut wies die Farbe von Penisfleisch auf, sie schlürften Mösensäfte aus Reagenzgläsern, masturbierten gelegentlich und ver­zogen keine Miene ihrer Katzengesichter.

„Jerome war immer der Beliebteste, aber Moses er­hob keine Einwände. Sie kennen doch das alte terrani­sche Motto: Dann starb Jerome, und die gesamte Synergie schien auf eine Implosion zuzusteuern –“

Professor Ubu verliest im Fernsehen seine letzten Berichte: „Siebzehn Prozent aller juvenilen Delinquenten und dreiundzwanzig Prozent aller senatonalen Delin­quenten glauben, Ingrid Bergman und nicht Fay Wray sei King Kongs Braut gewesen. Klinische Paranoiker äußern häufig spontan, wenn man ihnen im Rahmen des übli­chen Tests Tintenkleckse vorlegt, sie sähen Major Strasse, der Ingrid Bergmans endlose Kurven und Labyrinthe mit Schokoladensirup einreibt. In den meisten Träumen (80 Prozent) ist es George Washington, nicht Robert Arm­strong, der zur Totenkopf-Insel segelt, um sich dort dem Zorn des Schwarzen Riesengorillas zu stellen. Wir schluß­folgern daraus, dass Männer über siebzig vom Gedanken an King Kongs, dem Mythos nach notwendigerweise ei­nen Meter achtzig langen Penis besessen sind und die pa­nischen Bombardierungen des Irak und anderer, nicht hinlänglich abendländischer Nationen ebenfalls darauf zurückzuführen sind …“ Er verfällt in zusammenhanglo­ses Gemurmel: „Ratten in der Limonade … Gebissgeruch … Die Merowinger-Könige lassen die üblichen Verdächti­gen zusammentreiben … Erdbeermäuse … keine Verdau­ungsprobleme mehr …“

Blake Williams dagegen bereitet das Telegramm Sorge, das soeben von einem Osteopathen in Gorillako­stüm abgeliefert worden ist. Er liest es laut vor, während Jowly Fallow von Grauen ergriffen aus dem Fenster springt:

LIEBER FORTINBRAS SCHRECKLICHE NEUIG­KEITEN STOP ALTER KÖNIG NEUER KÖNIG KÖ­NIGIN UND PRINZ ALLE TOT STOP EBENFALLS TOT PREMIERMINISTER NEBST SOHN UND TOCHTER STOP AUCH TOT ZWEI STUDENTEN DEREN NAMEN ALLEN ENTFALLEN SIND STOP ZU DEM HOFNARR VORZEITIG EXHUMIERT STOP BRING SCHAUFELN HORATIO.

„Wissen Sie was“, meinte Mavis nachdenklich. „Ich glaube, jemand hat das LSD mit Rohrfrei versetzt. Mir will scheinen, Jowly fällt nicht, sondern steigt auf …“

„Er ist nicht der einzige“, erwiderte Blake Williams in ehrfürchtigem Tonfall. „Schauen Sie nur, ich sehe Tau­sende und Abertausende, die aufsteigen und davonflie­gen …“

Achte Perspektivenkategorie

Ich friemel mir den gottverdammten Schrecken der Göt­ter aus der Nase!
— J.R. „Bob“Dobbs

Als der Morgen des 7. Absolu 124 EP graute, hatte Simon genug Daten zusammen, um das, was geschehen war, mehr oder weniger vollständig zu erklären. Er berief eine Sitzung der Gesellschaft der Unsichtbaren Hand ein, um darüber zu diskutieren, was daraus zu lernen wäre.

„Sind wir soweit, um über bekannte Flugobjekte zu diskutieren?“ fragte er gutgelaunt.

„Es besteht kein Zweifel daran, dass die Levitationen tatsächlich stattgefunden haben, sagte Dr. Horace Nais­mith. „Millionen und Abermillionen von Zeugen – von den Millionen verschwundener Menschen ganz zu schweigen.“

„Nicht verschwundene Menschen, per se. Keine wahllosen Menschen“, widersprach Simon. „Hier war Se­lektion mit im Spiel.“

„Das ist Ihnen also auch aufgefallen?“ fragte W. Cle­ment Cotex. „Ja, es ist genau wie beim alten Fort und sei­nen stürmischen Maßnahmen zur Segregation. Aller­dings ging es hier noch wählerischer zu. Es hat aus­schließlich Christen erwischt.“

„Nun“, sagte Naismith, „das passt doch zu einer Lieb­lingstheorie, der viele von uns hier anhängen. Wenn nur genug Leute intensiv und lang genug an etwas glauben, vollführen ihre Gedankenströme am Ende einen Quan­tensprung in den Quantenschaum, dem Materie und Energie entspringen … “

„Genau das denke ich auch“, ließ sich Mavis verneh­men. „Die Extremisten von der Waffen-und-Jesus-Frak­tion dachten fortwährend daran, wie sie würden, und redeten und schrieben von nichts anderem, und als dann das nach ih­rem System richtige Datum erreicht war, wurden sie tat­sächlich aufgelesen … aber von wem oder was?“

„Von riesigen roten Ameisen“, sagte Simon. „Zuerst dachte ich, es läge nur an dem LSD auf der Anti-Millenni­um-Party, aber jetzt glaube ich daran. Sie wurden in einer Verrückung aufgelesen, nicht in einer Verzückung. Ich habe eine der beteiligten Ameisen kennengelernt. Meh­rere Realitäts-Tunnel kollidierten. Ich habe mit einer die­ser roten Ameisen gesprochen. Anscheinend finden sie Christen ganz besonders schmackhaft.“

„Das ist doch grauenhaft“, warf Naismith ein. „Von riesigen Insekten zerfetzt und zermalmt zu werden … das ist ja wie bei Lovecraft …“

„Na ja, schließlich haben sie an die Hölle geglaubt“, sagte Simon. „Und ihrem dämlichen System von Tabus konnten die meisten ohnehin nicht gerecht werden, so dass sie damit rechneten, zur Hölle zu fahren.“

Es trat eine längere Pause ein, und dann schauten alle ihr neuestes Mitglied an, das sich noch nicht zu Wort gemeldet hatte.

„Was denken Sie, Abdel?“ fragte Naismith.

„Ich bin noch neu hier“, sagte Abdel Rahman Mas­soud leise. „Aber ich habe so die Vermutung, eine Welt ohne Christen wird ein wesentlich ruhigerer und ver­nünftigerer Ort sein. Innerhalb von drei Tagen haben be­reits fünfzehn Kriege aufgehört … Vielleicht verstehen wir nicht alle Kräfte und Intelligenzen, die hier zusam­men – oder auch gegeneinander – gewirkt haben, so dass als zufälliges Endergebnis dabei das herauskam, an das wir uns als Tag der Nicht-Jahrtausendwende erinnern.“

Nachdenkliche Blicke wurden gewechselt.

„Auf die Unsichtbare Hand.“ Professor Finnegan hob sein mit Jameson’s gefülltes Whiskeyglas, und die Runde nahm einen feierlichen Schluck.


Dalis Uhren
von Robert Anton Wilson ist in Die letzte Nacht des Jahrtausends – Neue Stories aus England (1999) herausgegeben von Sarah Champion, im Original „Dali’s Clocks“ in Disco 2000 (1998) erschienen.

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